Seit Tagen rücken israelische Truppen auf die südliche Stadt im Gazastreifen vor. Weiterhin müssen sie die Hamas auch im Norden der Enklave bekämpfen. Beide Operationen zeugen von der fehlenden politischen Strategie Israels. In Netanyahus Kabinett rumort es.
Auch am Mittwoch dauerten die Kämpfe im östlichen Teil von Rafah an. Anwohner der Stadt im Süden des Gazastreifens berichteten von Zusammenstössen in Wohngebieten. Die israelischen Streitkräfte (IDF) teilten mit, sie hätten bewaffnete Kämpfer getötet und Hamas-Infrastruktur zerstört. Rund eine Woche nachdem Israel in einer «limitierten Operation» den Übergang an der Grenze zu Ägypten erobert hat, setzt es seine Offensive in der Stadt fort, in der etwa 1,5 Millionen Menschen vor den Kämpfen Schutz gesucht haben. Laut dem Palästinenserhilfswerk UNRWA sollen 450 000 Menschen aus dem Osten Rafahs bereits geflohen sein.
Der israelische Militäranalytiker Kobi Michael geht davon aus, dass Israel Rafah bei seinem weiteren Vorgehen von allen Seiten umschliessen wird, um die militärische Infrastruktur der Hamas in der Stadt zu zerstören. «Voraussichtlich wird nur ein Ausgang im Norden offenbleiben, aus der die Zivilisten die Stadt verlassen können», sagt der Forscher, der am Institute for National Security Studies und bei der Denkfabrik Misgav tätig ist.
Doch die Offensive sorgt international für heftige Kritik: Am Mittwoch forderte etwa die EU von Israel ein unverzügliches Ende des Militäreinsatzes in Rafah, andernfalls würden die Beziehungen zwischen dem Staatenbund und Israel stark belastet werden. An ein baldiges Ende des Angriffs glaubt Michael nicht: «Solange das Patt in den Geiselverhandlungen bestehen bleibt, werden die IDF die Operation in Rafah ausweiten.» Derzeit ist die Armee allerdings nur in Ost-Rafah aktiv. Eine weitere Ausweitung der Kämpfe, vor der auch die USA eindringlich gewarnt haben, ist bis jetzt nicht erkennbar.
Der Rafah-Grenzübergang bleibt geschlossen
Die ohnehin schon angespannte humanitäre Lage in Rafah verschlechtert sich nicht nur durch die Kämpfe, sondern auch durch einen drohenden Versorgungsengpass. Denn seit dem Wochenende weigert sich Ägypten, Hilfsgüter durch den Grenzübergang von Rafah zu lassen. Der Grund sei Israels «inakzeptable Eskalation», wie das ägyptische Staatsfernsehen meldete. In israelischen Medien werden anonyme Quellen zitiert, laut denen Ägypten erwägt, seine Vermittlerrolle in den Geiselverhandlungen einzustellen oder sogar den 1979 geschlossenen Friedensvertrag zwischen den beiden Staaten aufzukünden.
Ob es so weit kommt, ist zweifelhaft. Doch eins ist laut dem israelischen Analytiker Nimrod Goren klar: Der Angriff wurde nicht ausreichend mit den Ägyptern koordiniert. «Es sieht sehr danach aus, als sei die Einnahme des Grenzübergangs durch Israel nicht von einem diplomatischen Plan flankiert gewesen, der ausbuchstabiert, was als Nächstes passiert», sagt der Leiter der israelischen Denkfabrik Mitvim im Gespräch.
Die Beziehungen zwischen Ägypten und Israel sind angesichts der Rafah-Offensive offenbar so frostig geworden, dass es nicht einmal mehr einen direkten Kommunikationskanal zwischen Kairo und Jerusalem gibt. Am Dienstag appellierte Israels Aussenminister Israel Katz an Deutschland und Grossbritannien, sie mögen Ägypten überzeugen, den für humanitäre Lieferungen wichtigen Grenzübergang wieder zu öffnen. Das ägyptische Aussenministerium teilte mit, Israel lenke von seiner eigenen Verantwortung ab.
«Ägypten will auf keinen Fall als ein Komplize Israels bei einer langfristigen Besetzung des Gazastreifens dastehen», sagt Nimrod Goren. Die Bilder von am Grenzübergang gehissten israelischen Flaggen, die kurz nach Beginn der Rafah-Offensive kursierten, hält er daher auch für kontraproduktiv. «Wenn Israel immer wieder versichert, den Gazastreifen nicht langfristig regieren zu wollen, dann sollte es keine Signale aussenden, die das Gegenteil aussagen.»
Dass Israel den Grenzübergang nicht selbst betreiben will, scheint klar. Offenbar ist die Regierung in Jerusalem verzweifelt auf der Suche nach anderen Möglichkeiten. So berichtete die israelische Tageszeitung «Haaretz», dass womöglich eine private amerikanische Sicherheitsfirma die Verantwortung für den Grenzübergang übernehmen solle. Israel soll laut Medienberichten auch die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) angefragt haben – allerdings erst, nachdem Israel den Übergang bereits eingenommen hatte. Demnach sollten die PA-Angestellten in Rafah aber nicht als solche zu erkennen sein. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas soll daraufhin abgelehnt haben.
Der Frust der Generäle – und des Verteidigungsministers
Zeitgleich wie in Rafah kämpfen israelische Soldaten auch wieder in der Gegend um Jabalya im Norden des Gazastreifens. Eigentlich hatten die IDF schon im Januar erklärt, dass die gesamte militärische Infrastruktur der Hamas dort zerstört worden sei. Auch im Norden sei ein Mangel an Strategie in Israels Kriegsführung zu erkennen, meint Nimrod Goren. «Jedes Mal sehen wir ein ähnliches Muster: Die militärischen Erfolge der IDF können nicht in politische Erfolge umgemünzt werden, weil es keinen kohärenten Plan für einen ‹Tag danach› in Gaza gibt.»
Nach über sieben Monaten Krieg regt sich nun auch Kritik innerhalb der israelischen Streitkräfte. Offenkundig gezielt wurden israelische und internationale Medien von «hochrangigen Offizieren der IDF» oder «Quellen im Generalstab» informiert: Die Soldaten müssten nur in den Norden zurückkehren, weil die israelische Regierung keinen Plan für den «Tag danach» formuliert habe. So könne die Hamas in das Vakuum vorstossen und sich neu gruppieren.
In die gleiche Kerbe schlug auch Armeesprecher Daniel Hagari, als er sich am Dienstag an die Öffentlichkeit wandte. «Zweifellos würde eine alternative Regierungsstruktur Druck auf die Hamas ausüben», sagte Hagari. «Aber das ist eine Frage für die Politik.»
Am Mittwochabend schaltete sich überraschend Verteidigungsminister Yoav Gallant in die Debatte ein. In einer Fernsehansprache forderte er Netanyahu direkt auf, sofort eine alternative Regierung in Gaza aufzubauen. Es dürfe keine israelische Militär- oder Zivilverwaltung geben: «Der ‹Tag nach der Hamas› wird nur erreicht, wenn palästinensische Einheiten die Kontrolle über Gaza übernehmen.»
Doch bei Netanyahu stösst diese Aufforderung auf taube Ohren. Als Reaktion auf Gallants Rede liess er verlauten, es sei sinnlos, über einen Nachkriegsplan zu diskutieren, solange die Hamas noch intakt sei. Er sei zudem nicht bereit, «Hamastan mit Fatahstan» zu ersetzen, und spielte damit auf die im Westjordanland regierende palästinensische Partei Fatah an.
Konkreter wurde Netanyahu nicht – das hat auch innenpolitische Gründe: Sollte er Verhandlungen mit der Palästinensischen Autonomiebehörde aufnehmen, würden das seine rechtsextremen Koalitionspartner kaum akzeptieren – und diese braucht der angezählte Ministerpräsident für sein politisches Überleben. Wenig überraschend forderten sie Netanyahu am Mittwoch auf, Gallant zu entlassen.