Wird die Initiative angenommen, stellen sich knifflige Fragen. Kritiker sprechen von Erpressung.
Es war eine Art Fernduell, das diese Woche in Bern ausgetragen wurde. Am Dienstag traten die Männer hinter der Kompass-Initiative im edlen «Salon Casino» des Hotel Bellevue Palace vor die Medien. Ihre Botschaft war direkt an den Bundesrat gerichtet: Wird das neue bilaterale Vertragspaket mit der EU dem Ständemehr unterstellt und angenommen, ziehen sie ihre Initiative zurück.
Am Mittwoch folgte der Gegenschlag: Im weniger edlen Medienzentrum des Bundes sassen der Aussenminister und der Chef des Bundesamts für Justiz auf dem Podium, Ignazio Cassis und Michael Schöll. Ihre Botschaft war implizit an das Kompass-Komitee gerichtet: Der Bundesrat denkt nicht daran, auf das Angebot einzugehen.
Das Ziel der Kompass-Initianten ist klar: Sie sind gegen das EU-Paket und verlangen, dass es einem Referendum mit doppeltem Mehr unterstellt wird. Neben dem Volk müsste auch die Mehrheit der Kantone zustimmen (Ständemehr). In diesem Fall wäre die Hürde in der Volksabstimmung deutlich höher, sie dürfte bei mindestens 55 Prozent liegen.
Das Problem ist nur, dass die Initiative eigentlich zu spät kommt. Nach allen Regeln und Fristen ist es kaum möglich, dass sie zeitlich vor den EU-Verträgen an die Urne kommt. Somit ist dieses Szenario möglich: Der Bundesrat setzt sich durch, und das Stimmvolk heisst das EU-Paket ohne Ständemehr gut. Auf dem Papier hat das Kompass-Komitee für diesen Fall vorgesorgt. Der Initiativtext enthält eine Klausel, die eine erneute Abstimmung über das EU-Paket erzwingen soll – nunmehr mit Ständemehr. Aber würde das in der Realität funktionieren? Wäre die Rückwirkungsklausel verbindlich?
Der Direktor des Bundesamts für Justiz scheint stark daran zu zweifeln. Er wünsche sich eine Debatte über die «Qualität des Texts» und «die erhofften Wirkungen» der Initiative, sagte Michael Schöll am Mittwoch. Heisst das, dass das Begehren wirkungslos wäre und die Initianten vergebens auf eine Abstimmungswiederholung hoffen? Schöll wollte seine Andeutungen nicht genauer ausführen.
Enorme Rechtsunsicherheit
Welche konkreten Folgen die Kompass-Initiative hätte, wenn das EU-Paket zuvor mit einfachem Volksmehr angenommen worden wäre, ist laut Juristen nicht banal. Klar ist: Die Schweiz hätte sich in diesem Fall gegenüber der EU bereits vertraglich verpflichtet, die Abkommen wären unterzeichnet und in Kraft, allenfalls hätten Firmen, Hochschulen oder andere Akteure handfeste Entscheide gefällt, die darauf basieren. Will heissen: Könnte die Initiative tatsächlich den ersten Volksentscheid rückwirkend aushebeln, wäre eine erhebliche Rechtsunsicherheit die Folge.
Gegenüber der EU wäre die Schweiz weiterhin an die neuen Abkommen gebunden. Scheitern sie in der zweiten Abstimmung, muss der Bund sie zuerst kündigen. Und dann? Dass die Schweiz zu den heutigen Verträgen zurückwechseln könnte, die dann gar nicht mehr bestehen, wäre eine riskante Wette. Es droht das definitive Ende des bilateralen Wegs.
Die EU sagt schon lange, dass sie dieses Verhältnis nur fortsetzen will, wenn für die Rechtsübernahme und die Beilegung von Unstimmigkeiten verbindliche Regeln festgelegt werden. Wenn dies erneut misslingt – und dann noch nach einer derartigen Spitzkehre –, ist zunächst einmal eine bilaterale Beziehungskrise zu erwarten. Ob angesichts solcher Kollateralschäden die umstrittene Rückwirkungsklausel trotzdem durchgesetzt werden müsste, ohne Rücksicht auf Rechtssicherheit und Verhältnismässigkeit, bleibt juristisch offen.
Der Irrtum der Initianten
Politisch aber ist die Sache restlos klar. Wenn Volk und Stände die Kompass-Initiative annehmen, kann niemand behaupten, man wisse nicht, was ihr Wille sei. Im Gegensatz etwa zur Masseneinwanderungsinitiative der SVP, welche die Kündigung der Personenfreizügigkeit nicht explizit verlangte, schreibt das Kompass-Komitee in seinem Text ausdrücklich, was es will (wenn womöglich juristisch auch nicht wasserdicht).
Darin liegt denn auch die Schlagkraft der Initiative: Sie setzt, wie dies der Staatsrechtler Georg Müller formuliert hat, auf einen «Abschreckungseffekt». Andere sprechen hinter vorgehaltener Hand von einem Erpressungsversuch. Die Initiative soll Bundesrat und Parlament motivieren, das EU-Paket «freiwillig» dem doppelten Mehr von Volk und Ständen zu unterstellen. Einer der Initianten, Urs Wietlisbach, sagte letztes Jahr in der NZZ, es sei «schlicht nicht denkbar, dass der Bundesrat die Abstimmung ansetzt und der EU gleichzeitig mitteilen muss, dass da noch eine Volksinitiative hängig sei, die eine zweite Abstimmung mit Ständemehr verlange».
Er scheint sich getäuscht zu haben. Zumindest beim Bundesrat hat das Kalkül nicht verfangen. Er zeigte sich am Mittwoch von der Drohkulisse unbeeindruckt und schlug das Rückzugsangebot in den Wind. Aber das kann sich noch ändern. Der Entscheid ist laut mehreren Quellen knapp ausgefallen. Je nachdem, wie sich vor allem die Kantone und die Parteien in der Vernehmlassung positionieren, ist gut denkbar, dass der Bundesrat Ende Jahr eine Kehrtwende macht – dass er dem Parlament in der definitiven Botschaft dann doch das doppelte Mehr vorschlägt.
Ständemehr stellt die Verträge in den Schatten
Andernfalls würde das Gezerre um das Ständemehr schier endlos weitergehen. Während der ganzen parlamentarischen Debatte, die sich lange hinziehen dürfte, würde dieser Nebenschauplatz weiterhin vom eigentlichen Thema ablenken: vom Inhalt der neuen bilateralen Verträge und von der Bedeutung geregelter Beziehungen mit der EU.
Das Parlament wiederum wäre in jedem Fall frei, gegen Widerstand des Bundesrats ein Ständemehr anzuordnen. Dass die bürgerliche Mehrheit so entscheidet, ist nicht unrealistisch – nicht zuletzt wegen der Kompass-Initiative, deren Umsetzung das Parlament in arge Nöte brächte.