Erstmals muss die Regierungspartei ANC die Macht teilen. Das bringt Unruhe ins politische Getriebe – aber sie wird dem Land guttun.
Afrika ist kein Kontinent, der für die Einhaltung demokratischer Spielregeln berühmt ist. Aufsehen erregte er in den letzten Jahren vor allem mit einer Serie von Staatsstreichen, mit Kriegen und manipulierten Wahlen. Umso faszinierender ist, was sich nun in Südafrika abspielt. Der Afrikanische Nationalkongress (ANC), der das Land seit 1994 mit absoluter Mehrheit regiert, hat bei der Parlamentswahl Ende Mai eine Tracht Prügel bezogen. Das hat etwas für Südafrika Unerhörtes zur Folge: Die Partei muss erstmals die Macht mit anderen teilen.
Zu klar ist das Verdikt der Wählerinnen und Wähler, deren Unterstützung für den ANC von 58 Prozent im Jahr 2019 auf 40 Prozent abgestürzt ist. Ein derart massiver Einbruch würde jede Regierungspartei in einem demokratischen Staat in Nöte bringen. Und nicht jede würde ein solches Ergebnis ohne weiteres akzeptieren. Der ANC tat das, wenn auch zähneknirschend. Das ist ein Zeichen für die Stärke der politischen Kultur in diesem Land.
Von der Euphorie zur Ernüchterung
In den frühen neunziger Jahren schaffte Südafrika den weitgehend friedlichen Wechsel von einem rassistischen System mit einer dominierenden weissen Minderheit zu einer demokratischen Staatsordnung mit freien Wahlen. Auf die anfängliche Euphorie folgten Jahrzehnte der Ernüchterung, mit einer zunehmenden Aushöhlung der demokratischen Institutionen im Zeichen einer erdrückenden Dominanz des ANC. Nun, dreissig Jahre nach der Wahl von Nelson Mandela zum ersten schwarzen Präsidenten, erlebt das Land eine weitere Zäsur.
Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass der ANC in der Regierung bleibt, dort mit Abstand stärkste Partei ist und mit seinem Vorsitzenden Cyril Ramaphosa weiterhin den Präsidenten stellt. Erstmals hat Südafrika nun eine Mehrparteienregierung. In kurzer Zeit haben sich Gruppierungen zusammengerauft, die sich bisher spinnefeind waren. Die künftig mitregierende Democratic Alliance war bisher die erbittertste Kritikerin des ANC.
Die rasche Koalitionsbildung spricht nicht nur für Ramaphosas politisches Geschick, sondern vor allem für eine bemerkenswerte demokratische Reife, die dem Land nur wenige zugetraut hätten. Das heisst nicht, dass es in den nächsten Monaten keine Spannungen in der Regierung geben wird. Selbst das Auseinanderbrechen der Koalition ist möglich. Auch das aber gehört zu den demokratischen Spielregeln.
Nun ist eine andere Politik gefordert. Der ANC und die Mitregierenden müssen zeigen, dass sie nicht nur Demokraten sind, sondern auch fähig, gegen die Missstände im Land anzukämpfen. Dass Südafrikas Politik nun unberechenbarer wird, ist nichts Schlechtes. Die Arbeit besonders für die ANC-Parlamentarier wird unbequemer. Ob sie das Land auch langfristig anführen können, hängt davon ab, ob sie ihre Lehren aus der Wahl ziehen.
Diese sind mannigfaltig. Das Wahlergebnis und der Absturz der Partei sind Ausdruck der über die Jahre stetig gewachsenen Unzufriedenheit mit den Lebensumständen. Bei einer Arbeitslosigkeit von offiziell mehr als 30 Prozent lebt ein Grossteil der Bevölkerung unter prekären wirtschaftlichen Bedingungen. Stundenlange Stromausfälle, die schlechte Wasserversorgung und eine mit roher Gewalt einhergehende Kriminalität behindern den Alltag der Menschen ebenso massiv, wie sie Industrie und Wirtschaft beeinträchtigen.
Auf dem harten Boden der Realität gelandet
In den freien und oft kritisch-frechen Medien kann die Bevölkerung derweil mitverfolgen, wie Korruptionsskandale und Misswirtschaft bis auf höchste politische Ebene ungestraft bleiben. Wenig hat sich seit dem Ende der Apartheid auch bei der Behebung der sozialen Ungleichheit getan. In Südafrika ist der Graben zwischen einer dünnen Schicht von Reichen und der Masse der Armen noch immer so gross wie fast nirgendwo auf der Welt.
Das Wahlergebnis ist ausserdem Ausdruck des demografischen Wandels. Südafrika hat eine sehr junge Bevölkerung, und mehr als 40 Prozent der Wahlberechtigten sind jünger als vierzig Jahre. Für sie ist der leidvolle Kampf gegen die Apartheid die Geschichte ihrer Eltern und Grosseltern. Sie selbst aber wuchsen in den Jahren unter den ersten schwarzen Staatspräsidenten Mandela und Thabo Mbeki auf. Es waren zunächst Jahre des Aufbruchs, geprägt von Verbesserungen in den Bereichen Gesundheit und Wohnen, von Wirtschaftswachstum und neuen Freiheiten für alle. Doch dann mussten sie immer gravierendere Fehlentwicklungen miterleben.
Wegen der Misswirtschaft des ANC begann das Land ab 2008 zu stagnieren. Ungelöste strukturelle Probleme traten immer deutlicher zutage, die Wirtschaft schwächelte zusehends und dümpelt nun seit Jahren um ein Wachstum von null Prozent. Junge Südafrikaner erleben deshalb einen Rückfall in harte Zeiten. Fast jeder zweite junge Erwachsene hat heute keine geregelte bezahlte Arbeit. Für die nach 1994 Geborenen zählen die historischen Verdienste des ANC nichts. Der Leuchtturm ihrer Eltern ist zu einer Partei der politischen Versäumnisse geworden.
Das Vertrauen in die Politik verloren
So haben viele in Südafrika das Vertrauen in die Politik verloren. Dem ANC sollte zu denken geben, dass fast zwei Drittel der gut 42 Millionen Wahlberechtigten nun den Urnen mit dem Argument fernblieben, keine Partei vertrete ihre Interessen. Immerhin nimmt die Partei für sich in Anspruch, alle Schwarzen zu vertreten – gut 80 Prozent der 60 Millionen Südafrikaner. Ähnliches gilt für die nun mitregierende Democratic Alliance, die vom Absturz des ANC nicht wirklich profitieren konnte. Sie wird weiterhin als «weisse», elitäre Partei wahrgenommen und ist vorerst nur der Juniorpartner in der Koalition.
Nimmt Südafrikas neue politische Führung die Unzufriedenheit ernst und erarbeitet sich das Vertrauen der Bevölkerung, wäre das der nächste Schritt in der stillen Revolution des Landes. Südafrikas lebendige Zivilgesellschaft und die unabhängigen Medien treiben die Politiker zu Recht vor sich her. Sie fordern Investitionen in die teilweise total verrottete Infrastruktur, was die am stärksten industrialisierte Wirtschaftsnation des Kontinents dringend nötig hat. Neben der Sicherung der Energie- und Wasserversorgung sind Verbesserungen der Hafeninfrastruktur für die Teilnahme am internationalen Handel unerlässlich.
Vor diesem Hintergrund ist höchst bedeutsam, mit wem sich der ANC zur ersten Koalitionsregierung zusammenschliesst: Die links politisierende Mehrheitspartei, die sich an Ländern wie China, Russland und Indien orientiert, arbeitet nun mit der liberalen, wirtschaftsfreundlichen Democratic Alliance zusammen. Diese ist westlichen Werten verpflichtet und verfügt international über eine grössere Glaubwürdigkeit – auch weil sie auf Provinzebene einen guten Leistungsausweis erarbeitet hat. Das erhöht nun die Chance auf marktwirtschaftlich orientierte Reformen in ganz Südafrika.
Den afrikanischen Führungsanspruch verteidigen
Mit der Bildung einer grossen Koalition schliesst Ramaphosa in gewisser Weise an die Zeit der Überwindung der Apartheid an. Neben dieser wichtigen Symbolik stellt sich die Frage, wie eine solche Regierung funktionieren soll. Wird die Democratic Alliance den ANC zum Handeln antreiben und dessen korrupte Ader zähmen? Wird sie mit dem Austritt aus der Koalition drohen, um Gewünschtes zu erreichen, oder treibt sie den Afrikanischen Nationalkongress damit nur in die Arme populistisch auftretender Parteien auf der radikalen Linken?
Das alles bleibt abzuwarten. Südafrika steht vor einem Experiment mit ungewissem Ausgang. Doch mit einer starken, in der Bevölkerung breit abgestützten Regierung könnte Südafrika auch wieder zu dem wichtigen internationalen Akteur werden, der es gerne wäre.
Denn mit seiner Forderung nach einem besseren Zugang zu den Weltmärkten, nach einer fairen Machtverteilung in der Uno, nach weniger bevormundenden Vorschriften aus dem von den USA dominierten Teil der Welt spricht Südafrika vielen Menschen über den afrikanischen Kontinent hinaus aus dem Herzen. Afrikanische Länder könnten sich wieder an dem Zugpferd an der Südspitze ihres Kontinents orientieren. Südafrikas Position als wichtiges Schwellenland innerhalb der von China angeführten Staatengruppe Brics würde gestärkt. Einen wichtigen Schritt in diese Richtung hat das Land nun gemacht, der entscheidende Test aber steht erst bevor.