Fluggesellschaften achten aufs Gewicht. Die Swiss tut das überall ausser in der neuen Luxusklasse. Sie wirft Fragen auf bezüglich Nachhaltigkeit und Balance der Flugzeuge.
Der Kabinenboden von kommerziellen Passagierflugzeugen ist der teuerste Grund und Boden auf der Welt. Das hat Boeing vor einigen Jahren vorgerechnet: Damit die Fläche eines Hotels Profit abwirft, müssen täglich 20 Dollar je Quadratmeter Zimmerfläche erwirtschaftet werden. Bei einem Fünfsternehotel mit grösseren Zimmern und höheren Preisen sind es immer noch 15 Dollar je Quadratmeter. Bei einem Sitz in der Economyclass eines Flugzeugs beträgt dieser Wert hingegen 1100 Dollar. Dabei ist der dazugehörige Anteil an Bordküche und Toiletten mitgerechnet. Entsprechend muss ein Quadratmeter Economyclass je Flug 550 Dollar erwirtschaften. In der Businessclass sogar 600 Dollar, und in der Firstclass wäre es schon damals noch mehr gewesen.
Heute dürften diese Werte angesichts von Inflation und Kostensteigerungen noch deutlich höher liegen. Diese Rechnung aber muss verstehen, wer das Platzangebot der «Swiss Senses» Firstclass einschätzen will. Im Sommer erhält die Schweizer Fluggesellschaft den ersten ihrer 10 bestellten Airbus A350-900 mit neuer Kabine. Das Flugzeug mit dem künftigen Kennzeichen HB-IFA befindet sich gerade in der Endmontage in Toulouse.
Bei der Swiss-Muttergesellschaft Lufthansa fliegt das baugleiche Modell als Allegris Firstclass seit wenigen Wochen. Die Lufthansa-Gruppe ist mit ihren Luxusabteilen sehr spät dran im Branchenvergleich, auch weil sie stets etwas Eigenes entwickelt, statt von der Stange zu kaufen. Die Allegris First ist eine Kollaboration mit dem amerikanischen Sitzhersteller Collins Aerospace und den Londoner Designern von Priestman Goode.
Bereits 2020 sollten die neue Businessclass und die Firstclass eigentlich fliegen, dann folgten die Pandemie sowie massive Lieferverzögerungen bei Boeing, die zusammen mit Problemen bei der Zulassung den Start der First bis Anfang 2025 verzögerten.
Privatsphäre steht im Vordergrund
Im Gegensatz zum bisherigen Firstclass-Angebot, das bei Lufthansa so gut wie keine Abgeschiedenheit an Bord ermöglichte, bietet die Allegris First fast völlige Privatsphäre: Es gibt nur noch drei grosszügige Suiten anstelle von zuvor acht Sitzen.
Die Fläche der Suiten ist enorm, gemessen am hohen Wert jedes Quadratzentimeters in einem Verkehrsflugzeug: In den beiden Einzelkabinen stehen dem Gast zwischen 2,7 (im Airbus A350) und 3,5 Quadratmeter (in der Boeing 747-8) zur Verfügung, in der «First Suite Plus» in der Mitte für einen oder auch zwei Reisende sind es sogar 3,7 beziehungsweise 4,5 Quadratmeter.
Da die Boeing 747-8 einen wesentlich breiteren Rumpf aufweist als der Airbus A350, ist im Jumbo das Raumangebot noch üppiger. In allen Flugzeugen lässt es sich hinter 1,80 Meter hohen Wänden und nach aussen fast blickdicht abschirmenden Schiebetüren reisen, ohne andere Fluggäste an Bord zu sehen. Das empfinden viele als Luxus.
Die in der Kabinenmöblierung verbauten Werkstoffe sind hochwertig – das sieht der Passagier etwa an dem eigenen Garderobenschrank oder den massiven Handgepäckfächern unter der Ottomane in jeder Suite. Aluminium und Titan, Glasfaser- und Kohlefaser-Verbundwerkstoffe, Stoffe aus Wolle und Kevlar-Faser, Leder und Kunstleder, Holzlaminate.
Aber bei all dieser Kabinenbaukunst sammelt sich enormes Gewicht an – während anderswo an Bord jedes Gramm zählt und nach Möglichkeit eingespart wird. Denn mehr Gewicht bedeutet mehr Treibstoffverbrauch, mehr Kosten und mehr Emissionen. Economyclass-Sitze wiegen heute manchmal nur noch 6 oder 8 Kilogramm, Businessclass-Abteile 130 Kilogramm oder mehr.
In der First dagegen scheint es keine Grenzen zu geben. Premium-Kunden bringen in der margenschwachen Airline-Branche die bei weitem höchsten Gewinnbeiträge. Um sie anzulocken, tritt die sonst mantrahaft beschworene Nachhaltigkeit als oberstes Gebot in den Hintergrund.
Das Gewicht der neuen Firstclass-Suiten liege «im Branchendurchschnitt», erklärt Lufthansa. Das klingt widersinnig bei einem Produkt, das aus gutem Grund fast keine andere Fluggesellschaft anbietet. Genaue Angaben mache man aus Wettbewerbsgründen grundsätzlich nicht, heisst es.
Führende Sitzhersteller, die nicht an diesem Produkt beteiligt waren, schätzen gegenüber der NZZ das Gewicht einer der neuen Suiten auf 500 bis 700 Kilogramm, also mindestens eine halbe Tonne pro Passagier. Die Entwicklung hin zu mehr Privatsphäre in der Firstclass habe zur Folge, «dass diese Sitze im Vergleich zu früher schwerer werden», räumt auch Swiss ein, während in der Economyclass das Gegenteil der Fall sei.
«Es kann sein, dass sich das für die Airlines rechnet, wenn die Firstclass-Tickets entsprechend teuer sind», sagt Dieter Scholz, Professor und Spezialist für Flugzeuge und Kabinen an der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW). «Klimagerecht ist das nicht.» Ein Firstclass-Ticket von München nach New York und zurück in den neuen Suiten kostet an einem Beispieltermin im März 2025 genau 13 163 Euro (rund 12 400 Franken), das Doppelte eines Businessclass-Tickets oder elfmal so viel wie ein Economy-Ticket auf dem gleichen Flug.
Swiss Senses soll in 36 Flugzeugen eingebaut werden
Bei der Frage, wie viel Gewicht man sich mit Luxusabteilen an Bord holt, handelt es sich um eine grundsätzliche Abwägung und Kosten-Nutzen-Rechnung der Flugbranche. Lufthansa baut ihre gewichtigen neuen Luxusabteile Stand heute zunächst nur in insgesamt 20 Airbus A350 und 19 Boeing 747-8 ein. Das sind weniger als die Hälfte aller ihrer Langstreckenjets.
Swiss hat sich dagegen vorgenommen, die gesamte Langstreckenflotte mit den First-Suiten auszurüsten. Sie baut neben den 10 bald ab Werk damit eintreffenden A350 auch die vorhandenen 12 Boeing 777 und 14 Airbus A330-Jets entsprechend um.
Die grösste Teilflotte, der zweistrahlige A330 (Durchschnittsalter über 14 Jahre) mit der ältesten Kabine, stellt jetzt unerwartet die grössten Probleme. «Swiss baut Bleigewichte in Flieger ein», so lauteten schon im vergangenen Sommer spöttische Schlagzeilen.
Tatsache ist: Der kleinere A330 ist eigentlich ungeeignet für den Einbau derart schwerer und breiter First-Suiten. Und das ist aufgrund mangelnder Koordination innerhalb der Lufthansa-Gruppe erst zu spät aufgefallen, vermuten Insider.
Das Problem beginnt schon bei der geringeren Kabinenbreite des Airbus A330 mit nur 5,26 Metern, während der A350 immerhin 5,61 Meter Innendurchmesser aufweist. Doch viel gravierender: Das massive Zusatzgewicht vorn droht den A330 in unsichere Flugzustände zu bringen, weil sein Schwerpunkt sich verschiebt. «Damit das Flugzeug ausgeglichen fliegen kann und nicht unbeabsichtigt steigt oder sinkt, darf der Schwerpunkt weder zu weit vorn noch zu weit hinten liegen», erläutert Dieter Scholz von der HAW.
Liegt der Schwerpunkt zu weit vorn, bringt das Probleme mit der Steuerbarkeit, die Flugzeugnase liesse sich nicht am Horizont halten. «Wenn der Schwerpunkt zu weit hinten liegt, wird das Flugzeug instabil, beides hätte in letzter Konsequenz den Absturz zur Folge», so der Professor. Das will niemand riskieren. «Vor jedem Start muss daher nachgewiesen werden, dass der Schwerpunkt im zulässigen Bereich liegt.»
Vorne Luxus – hinten Ballast zum Ausgleich
Um die Balance für den A330 mit der schweren neuen First künftig zu garantieren, muss zum Ausgleich des Zusatzgewichts vorn dafür ganz hinten im Heck des Flugzeugs zusätzlich ähnlich viel wiegender Ballast eingebaut werden. Die Rede war von anderthalb Tonnen schweren Metallplatten. «Eine feste Gewichtsregulierung ist in diesem Fall unumgänglich», bestätigt eine Swiss-Mediensprecherin.
Da das abschliessende Gewicht der Kabinenbestandteile der Swiss Senses First noch nicht feststehe, gebe es beim finalen Gewicht des Ausgleichs im Heck noch viele Unsicherheiten, so die Auskunft. «Stand heute ist eine Variante mit Metallwerkstoffen geplant, der Umbau startet im Winter 2025/26», erklärt Swiss.
Das ruft beim eigenen Personal Empörung hervor, wie sich im Swiss-Intranet deutlich zeigte. Auch in offiziellen Statements gegenüber der NZZ ist der Groll der Personalvertretungen deutlich erkennbar. «Im Flugbetrieb kämpfen wir mit grossen Anstrengungen um jede noch so kleine Treibstoffersparnis», berichtet Thomas Steffen, Mediensprecher des Pilotenverbandes Aeropers und selbst Flugkapitän auf dem A330.
«Dass bei unseren A330 jetzt Ballast eingebaut werden muss, hat bei vielen Piloten und Pilotinnen zunächst Kopfschütteln ausgelöst», so Steffen. Man konzentriere sich aber auf Themen, die man auch beeinflussen könne. Auch Kapers, die Vertretung des Kabinenpersonals, sieht hier «einen Widerspruch zu den Nachhaltigkeitszielen der Branche», man erkenne Optimierungsbedarf in der Abstimmung von Premium-Ansprüchen und ökologischen Zielen.
Gleichzeitig mahnt das Kabinenpersonal die Prüfung alternativer technischer Lösungen an. Dies habe man bei Swiss durchaus getan, sagt deren Mediensprecherin. «Wir hätten auch die Destinationen verändern können», so Swiss. Gemeint ist also, durch erhöhtes Gewicht geringere Reichweiten des A330 in Kauf zu nehmen oder die Frachtkapazität zu verändern.
«Ebenso haben wir geprüft, im hinteren Teil des Flugzeugs mehr Economy-Sitze einzubauen», so die Medienstelle. Doch all das wurde zugunsten des Komforts verworfen, stattdessen nimmt Swiss den unvermeidlichen Ballast in Kauf. «Derzeit verzichten wir aber auf Schiebetüren bei den einzelnen Businessclass-Sitzen, dadurch können pro Sitz rund zehn Kilogramm Gewicht eingespart werden, und statt bisher acht Sitzen wird es auch bei Swiss künftig nur drei Firstclass-Suiten geben», beteuert die Schweizer Airline.
Der Flug in der Allegris Firstclass wurde von Lufthansa unterstützt.