Seit islamistische Milizionäre in Syrien die Macht übernommen haben, fragen sich die Christen in der Hauptstadt Damaskus, ob sie überhaupt noch eine Zukunft haben.
Ausgerechnet kurz vor dem heiligen Fest der Christenheit ist ein politischer Sturm über Syrien hinweggezogen. In einem Blitzfeldzug stürzten islamistische Rebellen der Hayat Tahrir al-Sham (HTS) das Regime des Langzeitdiktators Bashar al-Asad und haben nun das Sagen in Damaskus. Die Gefühlslage der Einwohner der syrischen Hauptstadt schwankt zwischen Euphorie, Skepsis und Furcht.
Vor allem die Christen wissen nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Die zersplitterte Glaubensgemeinschaft, die in dem multikonfessionellen Land eine kleine Minderheit bildet, ist den tektonischen Verschiebungen machtlos ausgeliefert.
Der Gottesmann ist optimistisch
Droht den Christen nun Unheil? Oder war der Sieg der Islamisten über den brutalen Diktator ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk für sie? Um das zu beurteilen, sei es noch zu früh, sagt Pater Siraj Dib im Büro seiner maronitischen Kirche in einer kleinen Strasse im Damaszener Christenviertel Bab Tuma.
Der Gottesmann, der Englisch mit italienischem Akzent spricht, ist aber optimistisch. «Ich habe keine Angst», sagt er. Es habe bereits ein Treffen der Kirchenoberen und der neuen, provisorischen Machthaber gegeben. «Dabei wurde uns versichert, dass alles in Ordnung sei und wir unsere Riten und Feste zelebrieren könnten.»
Ist dem tatsächlich so? Auch wenn sich die HTS-Führer nun tolerant geben, hatten ihre Kämpfer in der Vergangenheit oft ganz anders gehandelt. Die Vorgängerorganisation der HTS – die jihadistische Al-Nusra-Front – hatte unter Andersgläubigen Massaker verübt. «Die Christen nach Libanon, die Alawiten ins Meer», hatte ihr Schlachtruf damals gelautet.
Auch andere Gruppen in Syrien haben es auf die Christen abgesehen. Anfang dieser Woche machte ein Video die Runde, in dem vermummte Männer einen Weihnachtsbaum nahe der Stadt Hama in Brand setzen. Am Dienstag gingen Hunderte von Christen in ganz Syrien auf die Strasse, um für ihre Rechte zu demonstrieren. Umgehend beteuerte die HTS, der Weihnachtsbaum werde repariert. Die Brandstifter, angeblich ausländische Kämpfer der islamistischen Gruppe Ansar al-Tawhid, seien festgenommen worden.
«Uns steht die Hölle bevor»
Pater Siraj kann verstehen, dass viele Christen Angst haben. «Das ist völlig legitim und hängt mit der schlechten Erfahrung zusammen, die sie gemacht haben.» Er glaubt jedoch, dass es die HTS mit ihren Versprechen der Toleranz ernst meint. «Es bleibt ihr gar nichts anderes übrig. Die meisten sunnitischen Muslime in Syrien sind ebenfalls nicht radikal und lehnen einen Gottesstaat auch vehement ab.» Man lebe seit Jahrhunderten mit den Muslimen zusammen – und kenne sie.
Zumindest Letzteres behauptet auch Roger. Der elegant gekleidete Augenarzt ist mit seiner Arbeitskollegin Maria in Bab Tuma unterwegs. Allerdings kommt der 33-jährige Katholik aus dem Damaszener Nobelvorort Mezzeh zu einem ganz anderen Schluss: «Wir Christen sind die ursprünglichen Einwohner Syriens. Wir werden seit Jahrhunderten von den Muslimen verfolgt. Uns steht jetzt die Hölle bevor», sagt er mit zitternder Stimme.
Roger und seine Begleiterin wollen weder fotografiert werden noch ihre echten Namen nennen. Zum Gespräch bitten sie in die leere Lobby eines Hotels. Beide haben schreckliche Angst. Der Islamische Staat habe Syrien erobert, sagen sie. Die angebliche Toleranz, die die Islamisten predigten, sei nur ein Ablenkungsmanöver. «Sie geben sich freundlich, solange die internationale Presse da ist. Danach werden sie das Land abriegeln und uns verfolgen.»
Asad inszenierte sich als Beschützer der Christen
Schon heute jagten die Islamisten Andersdenkende. «Als sie in Damaskus einmarschierten, versuchten sie, meine Wohnung zu stürmen. Ich habe mich mit einer Handgranate hinter der Türe verschanzt. Zum Glück zogen sie nach kurzer Zeit wieder ab», sagt Roger. Seine muslimischen Nachbarn hätten ihn verpfiffen. Maria sagt, sie sei von Kämpfern aufgefordert worden, ein Kopftuch anzuziehen.
«Ich war nicht für Asad», sagt Roger. «Aber wenigstens war das Regime säkular und damit das kleinere Übel.» Die Christen müssten sich jetzt bewaffnen. Ein Freund habe ihm bereits eine Waffe überlassen. «Zum Selbstschutz natürlich. Nur so lässt sich verhindern, dass sich die Ereignisse von 1860 wiederholen.»
Damals war unter osmanischer Herrschaft ein muslimischer Mob über Bab Tuma hergefallen und hatte in Damaskus wahllos Christen abgeschlachtet. Das Trauma des Massakers wirkt bei vielen bis heute nach. Auch deshalb versuchte das Asad-Regime, sich während des Bürgerkriegs als Beschützer der Minderheiten aufzuspielen.
«Damaskus ist eine gemischte Stadt»
Das nahmen dem Diktator nicht alle ab. Olga Muti ist glücklich, dass das Regime, in dessen Folterkellern auch Christen landeten, Geschichte ist. «Jede Weihnachten war schlimmer als die vorhergegangene», sagt die 29-jährige orthodoxe Christin, die eine kleine Konditorei mit Cup-Cakes betreibt. In Syrien könne es nur besser werden. Muti hat viele muslimische Freunde. «Damaskus ist eine gemischte Stadt», sagt sie. «Wir leben Seite an Seite.»
Die junge Frau hofft, dass der wirtschaftliche Niedergang und die Isolation der bleiernen Asad-Jahre nun endlich ein Ende haben. Sie träumt davon, nach Europa zu reisen. «Ich will unbedingt nach Rom», sagt sie. Trotzdem kann sie nicht entspannt in die Zukunft schauen. «Natürlich mache ich mir auch Sorgen. Am Ende wissen wir Christen nie, was auf uns zukommt.»