Sportlich weckt der Slowene am Giro d’Italia Erinnerungen an die Dominanz von Eddy Merckx oder Lance Armstrong. Und doch ist alles anders: Selbst seine Gegner scheinen ihn zu mögen.
Im Augenblick ihrer spektakulärsten Erfolge wirken die besten Radfahrer der Geschichte selten ausgelassen und fröhlich, sondern eher wie Getriebene.
Zum Beispiel Eddy Merckx, gemessen an der Zahl seiner Siege immer noch der Grösste von allen. Der Belgier hatte an der Tour de France 1969 bereits die Gesamtführung erobert, bevor er am Col du Tourmalet angriff, 130 Kilometer vor dem Etappenziel. Als ginge es um Leben und Tod, jagte er durch die Pyrenäen und gewann mit fast acht Minuten Vorsprung. Später fragte ihn jemand, warum er das getan habe, und nach langen Sekunden des Schweigens antwortete Merckx: «Weil ich verrückt bin.»
2004, als Lance Armstrong zum sechsten Tour-de-France-Sieg fuhr, hatte der Amerikaner in der Gesamtwertung keinen Gegner auf Augenhöhe. Und dennoch kämpfte Armstrong permanent um Etappensiege und triumphierte auf sechs Teilstücken. Von Merckx bis Armstrong kamen die Dominatoren des Radsports bisher oft daher wie unersättliche Raffzähne, denen es zu gefallen schien, ihre Gegner zu demütigen. Und viele Zuschauer glaubten, so müsse wohl drauf sein, wer ganz nach oben wolle.
Doch jetzt steht Tadej Pogacar an der Spitze. 25-jährig hat der Slowene bereits einen grossen Teil der Rennen gewonnen, die es für ihn zu gewinnen gibt, sein Palmarès von der Tour de France bis zu den grossen Eintagesrennen hält dem Vergleich mit jenem von Merckx im selben Alter stand. Erstaunlich ist vor allem eine scheinbare Nebensächlichkeit: Er wirkt anders als seine Vorgänger. Der Slowene kommt locker, freundlich und humorvoll daher. Und so oft er auch siegt: Selbst seine Gegner scheinen ihn zu mögen.
Überflieger stossen auf Ablehnung
Normalerweise werden dominante Überflieger unter Strassenradfahrern noch ablehnender behandelt als in anderen Sportarten, was sich womöglich mit dem Milieu erklären lässt, in dem Velorennen einst entstanden. In den frühen Anfängen waren die Fernfahrten eine Aufstiegschance für wagemutige Vertreter der Unterschicht aus Belgien, Frankreich oder Italien. In jener Zeit entstanden ungeschriebene Gesetze, die in diffuser Form bis heute gelten. Zu ihnen zählt, dass bei allem sportlichen Wettstreit ein Geben und Nehmen herrschen sollte, was konkret bedeutet: Auch Aussenseiter in Fluchtgruppen haben gelegentlich eine Chance verdient.
Merckx setzte sich über das Gebot hinweg, und entsprechend litt sein Ruf. Als ein Fahrerkollege seiner Tochter vom unstillbaren Siegeshunger des Belgiers erzählte, bezeichnete sie diesen als Kannibalen und verpasste Merckx auf Lebzeiten seinen Spitznamen. «Er ist fast schon zu professionell», ätzte Louison Bobet. «Er ist der kälteste Radfahrer, den ich je erlebt habe», sagte Jacques Anquetil.
In seiner einschüchternden Art war Armstrong noch schlimmer. Unbarmherzig unterband er an der Tour de France 2004 jegliche Fluchtversuche von Filippo Simeoni, weil der Italiener den Arzt Michele Ferrari belastet hatte. Armstrong wurde wegen derartiger Aktionen im Peloton gefürchtet und verachtet. Schon bevor ihm seine Tour-de-France-Siege wegen Dopings aberkannt wurden, war er ein Paria.
Pogacar ist heute im Peloton ungleich populärer als seine Vorgänger zu ihren besten Zeiten. Das ist alles andere als trivial. Wer gut mit seinen Fahrerkollegen klarkommt, kann Dynamiken im Peloton in seinem Sinne nutzen, statt gegen sie ankämpfen zu müssen. Ob Kalkül oder nicht: Konsequent inszeniert sich Pogacar als Profi, der nicht nur gewinnen will, sondern auch Spass mit den Kollegen hat, innerhalb und ausserhalb des eigenen Teams. Er rollt mit einer Baguette in der Trikottasche durchs Fahrerfeld, spielt vor dem Teambus Basketball und schneidet im Hintergrund Grimassen, während ein anderer Fahrer ein seriöses Interview gibt. Irgendetwas ist immer.
An der sportlich weniger bedeutsamen Katalonien-Rundfahrt riss Pogacar aus, um sich hinter einem Busch zu verstecken, bis das Feld vorbeigefahren war, welches ihn immer noch in Führung wähnte. Die scheinbar bubenhaften Possen sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Inszenierung professionell orchestriert ist. Der Slowene beschäftigt einen persönlichen Fotografen, der ihn vorteilhaft in Szene setzt. Gelegentlich textet ihm Pogacar vor Rennen, wo er Attacken plant.
Die schönsten Tage seines Lebens
Am Giro d’Italia, der an diesem Sonntag in Rom endet, war Pogacar auf dem Papier so unersättlich unterwegs wie einst Merckx und Armstrong. Der Slowene degradierte die Rivalen zu Statisten. Zum Beispiel auf der Königsetappe nach Livigno, wo er fünfzehn Kilometer vor dem Ziel das Tempo forcierte. Als fahre er gegen Junioren, holte Pogacar die bis zu drei Minuten vor ihm fahrenden Ausreisser ein und distanzierte seine direkten Konkurrenten ebenfalls um drei Minuten.
Doch sobald er im Ziel war, war er wieder der nette Junge, auf den niemand neidisch sein mag. An der Pressekonferenz in Livigno sagte er, heute sei wohl der zweitschönste Tag seines Lebens. Natürlich fragte ein Journalist zurück, welcher Tag noch schöner gewesen sei. Und Pogacar erinnerte nicht etwa an das Bergzeitfahren in den Vogesen, an dem er sich 2020 überraschend seinen ersten Tour-de-France-Sieg erkämpft hatte. Stattdessen sagte er: Der schönste Tag sei gewesen, als er endlich mit seiner Freundin zusammengekommen sei. Als der Slowene kurz darauf den Medienbus verliess, rief ihm jemand zu: «Ti amo, Pogi!» Pogacar rief zurück: «Ti amo io.»
Zwei Tage später siegte er schon wieder. Erst kurz vor dem Ziel überholte er den Italiener Giulio Pellizzari und brachte den 20-Jährigen um den bisher grössten Erfolg seines Lebens. Bei Merckx hätten Fahrer, Kommentatoren und Fans genervt reagiert, bei Armstrong sowieso. Pogacar aber sind die ungeschriebenen Gesetze des Radsports präsent. Er umarmte Pellizzari lange und schenkte ihm sein rosa Trikot und seine Sonnenbrille. Wer konnte ihm danach noch böse sein?
Im Juli will der Slowene auch die Tour de France gewinnen. Letztmals gelang 1998 einem Fahrer das Giro-Tour-Double. Schon jetzt raten ihm Experten, Pogacar solle sich im Falle eines Erfolgs in Frankreich auch an der Vuelta in Spanien versuchen. Einen Triumph an allen drei grossen Rundfahrten in derselben Saison gab es noch nie. Das Triple hätte Pogacar sogar Merckx voraus, dem Kannibalen.
Ein Trainerwechsel hat Tadej Pogacar noch stärker gemacht
Die Konstellation war ungewöhnlich: Jahrelang wurde Tadej Pogacar im Team UAE von einem Medizinprofessor trainiert. Iñigo San Millán lebt teilweise im US-Staat Colorado, wo er sich der Krebsforschung widmet. Der Spanier ist überzeugt, dass Radprofis einen grossen Teil ihrer Trainings in niedrigen Intensitäten absolvieren sollten. Auch Pogacar fuhr laut San Millán viele Stunden pro Woche in der zweiten Zone des bei Ausdauersportlern gebräuchlichen Fünf-Zonen-Modells, also eher gemächlich.
Von einem Zerwürfnis ist nichts bekannt, San Millán gehört weiterhin zum Trainerstab der Mannschaft UAE. Aber er ist seit Saisonbeginn nicht mehr für den grössten Star der Equipe zuständig. Tadej Pogacars Trainingspläne kommen jetzt von Javier Sola, einem weiteren Spanier.
Bei Sola spielt das Krafttraining eine grössere Rolle. Ausserdem lässt der 37-Jährige Pogacar häufiger als bisher hochintensive Intervalle absolvieren. Die beiden Umstellungen sollen dafür verantwortlich sein, dass Pogacar in diesem Jahr gerade in der letzten Rennstunde zu Höchstleistungen fähig ist.
Die kurzen, aber harten Trainingsbelastungen ermöglichen es dem zweifachen Tour-de-France-Sieger, in entscheidenden Phasen weiterhin hohe Wattwerte zu treten. So stellte es vor kurzem zumindest der Südafrikaner Jeroen Swart, der im Team UAE den Trainerstab koordiniert, im «Cycling Podcast» dar.
Viele Fahrer schafften hervorragende fünfminütige Maximalbelastungen, so Swart. Anders sehe es jedoch nach fünf Rennstunden aus, wenn sie bereits viele Kalorien verbraucht hätten. Pogacar profitiere dann davon, dass er dank dem neuen Trainingsregime unter anderem über höhere Glykogenspeicher in seinen Muskeln verfüge.
Die Aussagen des Sportwissenschafters sind mit Vorsicht zu geniessen, die Transparenz des Teams UAE ist selektiv und folgt taktischen Erwägungen. Allerdings scheint sich am Giro d’Italia Swarts zentrale Aussage bestätigt zu haben: «Es ist der stärkste Tadej, den wir je gesehen haben.»