Die demokratische Insel ist ein liberaler Leuchtturm in Asien. Dennoch ist die Todesstrafe äusserst populär.
Das taiwanische Verfassungsgericht hat am Freitag in einem wegweisenden Urteil entschieden, dass die Todesstrafe zwar nicht der Verfassung widerspreche, jedoch nur für die allerschlimmsten Verbrechen und mit grösster Vorsicht angewendet werden dürfe. Damit entschieden sich die zwölf Richter zu einem Mittelweg zwischen Abschaffung der Kapitalstrafe und dem Ist-Zustand.
Die Klage war von 37 zum Tode Verurteilten angestrengt worden, deren Urteile endgültig sind. Sie hatten unter anderem geltend gemacht, dass die Todesstrafe gegen das Recht auf Leben verstosse, welches in der taiwanischen Verfassung festgeschrieben sei. Das oberste Gericht anerkennt dieses zwar, mahnte aber an, dass das Recht nicht grenzenlos sei. Darum bleibt die Todesstrafe bei besonders grausamen Taten möglich, namentlich Mord.
Todesstrafe wird durch Erschiessen vollzogen
Einzelne Beschwerdeführer können laut Aussage des vorsitzenden Richters eine Neubeurteilung ihres Falles beantragen. Für die Aktivisten, die für die Abschaffung der Todesstrafe kämpfen, ist der Entscheid des obersten Gerichts dennoch ein Misserfolg. Sie befürchten, dass sie ihrem Ziel noch lange fernbleiben, denn der Gerichtsweg bleibt nun für längere Zeit verwehrt. Auf die Gesetzgeber können sie nicht hoffen: In Umfragen geben mehr als 80 Prozent der Taiwanerinnen und Taiwaner an, für die Todesstrafe zu sein.
Mit seinem Mittelweg stösst das Gericht aber auch bei jenen auf Ablehnung, die sich für eine schärfere Anwendung der Todesstrafe aussprechen. Die Kuomintang (KMT), die im nationalen Parlament die grösste Fraktion stellt, kritisierte unter anderem, dass die Todesstrafe auf Mord beschränkt sei. Ihrer Ansicht nach sollten auch schwere Drogendelikte oder wiederholte Vergewaltigung damit bestraft werden.
Die KMT hatte im Wahlkampf Anfang Jahr auch versprochen, die meisten Todeskandidaten innert dreier Monate hinzurichten, falls sie gewählt werde. Allerdings gewann der Kandidat der Demokratisch-Progressiven Partei (DPP), Lai Ching-te. Seit dessen Vorgängerin Tsai Ing-wen 2016 an die Macht kam, wurden nur noch zwei Todesstrafen vollzogen. In den acht Jahren zuvor unter dem KMT-Präsidenten Ma Ying-jeou wurden 33 Todesurteile vollstreckt. Gegenwärtig sitzen 45 Personen in den Todeszellen.
In Taiwan wird die Todesstrafe durch Erschiessen vollstreckt. Der Henker schiesst dem Verurteilten von hinten ins Herz. Die Todeskandidaten werden im Voraus nicht über den Hinrichtungstermin informiert. Wenn sie ihre Rechtsmittel ausgeschöpft haben, können sie jederzeit aus ihrer Zelle geholt und wenig später erschossen werden. Ein letztes Mal ihre Familien zu sehen, bleibt ihnen verwehrt – seit 2020 können sie immerhin eine Sprachnachricht an ihre Hinterbliebenen aufzeichnen.
Die Wartezeit bis zur Hinrichtung dauert meist Jahre. Menschenrechtsaktivisten bezeichnen dieses Vorgehen als psychische Folter.
Todesstrafe wurde gegen politische Gefangene eingesetzt
Taiwan hat sich in den letzten 37 Jahren zu einer der liberalsten Demokratien Ostasiens entwickelt. Bis 1987 galt auf der Insel allerdings Kriegsrecht. In den Jahrzehnten des sogenannten weissen Terrors, als die KMT unter Chiang Kai-shek und danach seinem Sohn Chiang Ching-kuo das Land autokratisch regierte, wurden mehrere tausend Personen für politische Vergehen hingerichtet. Das angeblich «freie China», das sich mit dieser Bezeichnung vom kommunistischen Festland zu distanzieren versuchte, war in Tat und Wahrheit eine brutale Diktatur.
Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Amnesty International hatten bis Ende 2023 112 Länder die Todesstrafe abgeschafft. Letztes Jahr registrierte die Organisation insgesamt 1153 Hinrichtungen, fast ein Drittel mehr als im Vorjahr. Fast 90 Prozent der dokumentierten Hinrichtungen fanden in Iran und Saudiarabien statt.
In diesen Zahlen nicht enthalten ist China, wo Hinrichtungen geheim sind. Experten gehen von mehreren tausend Exekutionen pro Jahr in der Volksrepublik aus.