Der Mord an dem Sozialdemokraten scheint mit dem Abzug aus Afghanistan zu tun zu haben, bei dem Deutschland seine Ortskräfte im Stich liess. Bonard und Karow ermitteln in einem rasanten Politthriller.
Es ist 7 Uhr 09. Ein Mann telefoniert. Plötzlich fliegen Tauben aufgescheucht hoch. Der Mann, ein Ex-Abgeordneter, fällt um. Mitten in Berlin. Von einem Scharfschützen direkt am Bahnhof Friedrichstrasse getötet, während die Hauptstadt aufgeregt auf den britischen König wartet. Ein politischer Anschlag? Nachrichtensperre? Absage an den Staatsbesuch? Es bleibt dramatisch – bis ein ehemaliger Elitesoldat um 21 Uhr 17 zum Showdown in eine Tiefgarage lädt.
«Vier Leben» haben die Macher des Berliner «Tatorts» den rasanten Fall genannt. Doch werden es die Kommissare Karow (Mark Waschke) und Bonard (Corinna Harfouch) schaffen, tatsächlich vier Leben zu schützen? Werden sie rechtzeitig bereit sein, um den Sniper und seinen Komplizen bei seiner perfekt ausgearbeiteten, von Rache getriebenen Mördertour zu stoppen? Auch wenn die Geschichte zum Ende hin etwas ausschweift, hält einen der temporeiche Politthriller in Atem.
Das Debakel in Afghanistan
Der Fall ist an wahre Begebenheiten angelehnt. Es geht um eine verdrängte Realität in Deutschland: Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan im Sommer 2021 wurden die dortigen Ortskräfte im Stich gelassen. «Deutschland erwies sich als nicht ausreichend vorbereitet auf den Schutz der im Land gebliebenen Ortskräfte und ihrer Angehörigen», hiess es erst kürzlich – ganz real – im Abschlussbericht der Enquête-Kommission des Bundestages.
Der Drehbuchautor Thomas André Szabó schreibt das in ein fiktives Szenario um, in dem es um Macht und Einfluss geht, um Arroganz und Feigheit und um die verhängnisvollen Folgen für jeden Einzelnen dabei. An einem einzigen Tag vollstreckt hier jemand nach dem archaischen Prinzip «Auge um Auge, Zahn um Zahn» seine eigenen Urteile. Da brüllt auch die sonst ruhige Bonard herum. Der Regisseur Mark Monheim unterstreicht den Wettlauf mit der Zeit durch das klassische Stilmittel der eingeblendeten Uhrzeit, bildschirmfüllend.
Der am Morgen hingerichtete Jürgen Weghorst (Philipp Lind) war einst ein aufstrebender Sozialdemokrat. Nachdem er über eine Korruptionsaffäre gestolpert war, tat er sich als Lobbyist eines Lebensmittelverbandes hervor. Als solcher reiste er nach Afghanistan. Mit ihm zwei Begleiterinnen und ein Begleiter, angesehene, einflussreiche Akteure des Berliner Politzirkus.
Doch dann, im Chaos des überstürzten Abzugs der USA, lief etwas schief. Etwas, das auch das Leben der afghanischen Richterin Soraya Barakzay (eine hervorragende Pegah Ferydoni) für immer veränderte. Barakzay lebt mittlerweile in Berlin und hält der deutschen Politik mittels öffentlicher Aktionen den Spiegel vor. Ist sie die treibende Kraft hinter der Mordserie?
Aus der Perspektive des Täters
Die Kamera sucht den weiten Blick von den Dächern Berlins. Es ist ein Spiel zwischen oben und unten. Die Perspektive ist vor allem die des Täters, der den Ermittlern stets voraus zu sein scheint. Die beiden Kommissare sind Getriebene in diesem Fall, wo Blut offenbar mit Blut vergolten werden soll.
Karow agiert emotional, ist dünnhäutig, wütend, ungeduldig. Seine Verzweiflung schreit er heraus. Bonard gibt die Besonnene, doch selbst ihr gelingt die Zurückhaltung nur bedingt, mag sie sich noch so schnell entschuldigen für ihre Ausfälle. Sie muss sich auf die teilweise grenzüberschreitenden Methoden Karows einlassen, um Leben retten zu können. Sie muss ihm vertrauen.
«Wenn ich so was noch mal mit Ihnen erlebe, dann kriegen Sie den Arsch versohlt», sagt sie zum angeschossenen Karow. Er schmiegt sich an ihre Schulter und meint: «Das kann ja noch richtig interessant werden mit Ihnen.» Recht hat der Mann.
«Tatort» aus Berlin: «Vier Leben», am Sonntag, 20.05/20.15 Uhr, SRF 1 / ARD.