Bundeskanzler Olaf Scholz ist wieder einmal davongekommen. Das deutsche Parlament will die Ukraine zwar mit weitreichenden Waffen unterstützen, erklärt aber nicht, mit welchen. Gleichzeitig offenbart die Diskussion im Bundestag eine befremdliche Haltung der SPD.
Zwei Tage bevor sich der grossangelegte russische Überfall auf die Ukraine zum zweiten Mal jährt, hat das deutsche Parlament am Donnerstag dem angegriffenen Land seine langfristige Unterstützung zugesichert. Während die extremen Linken und die extremen Rechten die Regierung in Berlin zu stärkerem Engagement für Friedensverhandlungen aufforderten, sprachen sich Sozialdemokraten, Liberale, Grüne und die oppositionelle Union für fortgesetzte und verstärkte Waffenlieferungen an die Ukraine aus. Mit den Stimmen der Regierungsfraktionen wurde ein Antrag angenommen, der den Bundeskanzler auffordert, der Ukraine auch weitreichende Waffen zu liefern. Doch eine zwingende Handlungsanweisung ist das nicht. Bundeskanzler Olaf Scholz kann zunächst weitermachen wie bisher.
Das hat er in erster Linie dem linken Flügel seiner sozialdemokratischen Partei zu verdanken. Er verhinderte eine schärfere Formulierung in dem Antrag der Koalitionsparteien (SPD, Grüne und FDP). Ein solcher Wortlaut hätte den Kanzler unter Druck setzen können, etwa indem konkret benannt worden wäre, welche Waffensysteme in welchem Zeithorizont geliefert werden sollten.
Grüne und Liberale machten in der Bundestagsdebatte deutlich, dass sie für eine schnelle Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine sind, eine entsprechende Formulierung aber mit der SPD nicht machbar war. Am Ende stand ein Kompromiss, wonach die Regierung aufgefordert wird, «zusätzlich erforderliche weitreichende Waffensysteme und Munition» zu liefern. Das führte zu semantischen Verrenkungen, wie sie etwa die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD, Gabriela Heinrich, auf die Frage der Opposition anstellte, ob denn mit «weitreichenden Waffensystemen» der Taurus gemeint sei. Dies umfasse «nicht zwingend» die Lieferung dieser Marschflugkörper, sagte sie.
Keine Taurus-Lieferung, solange Scholz Kanzler ist
Welche Waffen Deutschland dann der Ukraine zur Verfügung stellen will, damit sie vor allem Nachschub und Kommandozentralen der russischen Angreifer im Hinterland bekämpfen kann, sagte weder Heinrich noch irgendein anderer Abgeordneter. Parteiübergreifend herrschte offenkundig Ratlosigkeit, wie aus einem dreifachen Dilemma herauszukommen ist.
Denn erstens bestand weitgehende Einigkeit im deutschen Parlament darüber, dass die militärische Lage in der Ukraine dramatisch ist. Zweitens scheint Scholz nicht von seiner ablehnenden Haltung zu Taurus abrücken zu wollen. SPD-Abgeordnete berichten, dass er vor kurzem bei einem Essen mit Fraktionsmitgliedern geäussert habe, solange er Kanzler sei, werde es keine Taurus-Lieferung geben. Und drittens verfügt Deutschland selbst über keine andere «weitreichende Waffe».
Ein Weg aus diesem Dilemma könnte etwa ein Tauschgeschäft mit Grossbritannien sein. Danach würden die Briten ihren weniger leistungsfähigen Marschflugkörper Storm Shadow der Ukraine liefern, während sie von Deutschland im Gegenzug mit Taurus entschädigt würden. Eine zweite Möglichkeit bestünde darin, amerikanische Flugkörper vom Typ Atacms zu kaufen und direkt an Kiew weiterzuleiten. Atacms gehören in die Klasse der Raketenartillerie, können etwa 300 Kilometer weit fliegen, sind aber ebenfalls nicht so leistungsfähig wie Taurus. Die US-Regierung hatte im Vorjahr bereits Atacms an die Ukraine geliefert.
Unter den Sozialdemokraten gibt es Abgeordnete, die sich eine oder beide Möglichkeiten durchaus vorstellen können, damit einerseits Scholz das Gesicht wahrt und andererseits die Ukraine die dringend benötigten Waffen bekommt. Doch welcher Flügel in der SPD bei der Ukraine-Unterstützung das Sagen hat und mutmasslich bremst, das zeigte die Debatte, die der Diskussion um den Antrag der Regierungsfraktionen vorgelagert war. Es ging dabei um einen Antrag der Christlichdemokraten und Christlichsozialen, der explizit die Lieferung von Taurus verlangte. Hauptredner der Sozialdemokraten war Ralf Stegner, Repräsentant des linken Flügels der Partei.
«Aufrüstung» als «Giftcocktail für die Demokratie»
Stegner sprach von einer «gefährlichen Mischung aus immer stärkerer Aufrüstung, Entfesselung der Rüstungsindustrie, Sozialkürzungen und womöglich Steuergeschenken für Grossverdiener», einem «Giftcocktail für die Demokratie und einem Energydrink für die Rechtsradikalen». Es war nicht ganz klar, an wen diese Worte gerichtet waren, denn Aufrüstung und Rüstungsindustrie sind zwei elementare Bestandteile der Zeitenwende von Olaf Scholz. Verteidigungsminister Boris Pistorius widersprach, wie Stegner von der SPD, seinem Parteigenossen später. Künftig würden noch höhere Verteidigungsausgaben nötig sein, sagte er, um Deutschlands Sicherheit langfristig zu garantieren. Diese resultieren ganz erheblich aus der Modernisierung der Bundeswehr mit Waffen und Munition.
Doch die Parlamentsdebatte entlarvte nicht nur, dass insbesondere der linke Flügel der SPD bei der Militärhilfe für die Ukraine entscheidend auf der Bremse steht. Sie offenbarte auch, wie sich Sozialdemokraten und Grüne die künftige Finanzierung der Verteidigungsausgaben vorstellen. Die Union behandele die Schuldenbremse wie der Vatikan das Zölibat, sagte etwa Stegner. Und die verteidigungspolitische Sprecherin der Grünen, Sara Nanni, meinte, höhere Verteidigungsausgaben liessen sich mit einem «Sparhaushalt, wie ihn die Union durch ihre Schuldenbremse» wolle, nicht stemmen.
SPD und Grüne wollen neben dem existierenden 100-Milliarden-Paket ein weiteres schuldenfinanziertes und mutmasslich noch höheres Sondervermögen auflegen, um nicht den regulären Haushalt mit den steigenden Verteidigungsausgaben zu belasten. Sein Motiv dahinter erklärte Stegner in dem Satz, wenn «wir» die Akzeptanz für die Landes- und Bündnisverteidigung gewährleisten wollten, dürften «wir» niemals die innere und äussere Sicherheit gegen die soziale Sicherheit ausspielen. Ähnlich hatte Scholz auf dem Bundesparteitag der SPD im Dezember argumentiert.
Am Ende der zweistündigen Debatte stimmte der Bundestag gegen den Antrag der Union und für den Antrag der Regierungsfraktionen. Scholz ist wieder einmal davongekommen. Erneut liessen es ihm die Regierungsfraktionen durchgehen, dass er sein Nein zu Taurus nicht einmal ansatzweise erklärt. Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses von den Liberalen, gab in ihrer Rede zu, für beide Anträge gestimmt zu haben. Sie wolle sich nicht eines Tages vorwerfen müssen, nicht das Richtige getan zu haben, so begründete sie ihr Vorgehen.