Wer hierzulande seinen Job verliert, kann das Arbeitslosengeld auch in der EU beziehen. In süd- und osteuropäischen Ländern wird das viel häufiger gemacht als etwa in Deutschland. Der Baumeisterverband sieht Hinweise auf Missbrauch.
Personenfreizügigkeit. Was für ein Wort. Wieder einmal blickt die Schweiz auf den Bundesrat, während dieser mit Brüssel darüber verhandelt, was dieser sperrige Begriff genau beinhalten soll.
Die Theorie ist einfach: Das Personenfreizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der EU garantiert den Bürgern beider Vertragsparteien, ihren Arbeitsplatz und ihren Wohnort innerhalb Europas frei wählen zu können.
Wie dieses Prinzip im Detail gehandhabt werden soll, sorgt aber immer wieder für Diskussionen. Wieso das so ist, zeigt ein wenig bekanntes Beispiel aus der Arbeitslosenversicherung: der sogenannte Leistungsexport.
Gestützt auf das Freizügigkeitsabkommen, können Personen, die in der Schweiz gearbeitet haben, ihre Arbeitslosenentschädigungen auch im europäischen Ausland beziehen – ohne Abstriche. Die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) bewilligen entsprechende Gesuche für drei Monate, sowohl für Schweizer als auch für EU-Bürger.
In den vergangenen Jahren wurde von dieser Option vermehrt Gebrauch gemacht: Bis 2013 waren es rund 1000 Personen pro Jahr, die sich die Arbeitslosenentschädigung ins europäische Ausland vergüten liessen. Zuletzt erhielten jeweils um die 3000 Personen einen Leistungsexport bewilligt, wie Zahlen des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) zeigen.
Grosse Unterschiede zwischen den Ländern
Denkbar ist, dass die Möglichkeit des Leistungsexports schlicht an Bekanntheit gewonnen hat und deshalb auch vermehrt genutzt wird.
Insbesondere für Arbeitsmigranten, in deren Heimatland die Lebenskosten tief sind, dürfte der Bezug von Arbeitslosengeld aus der Schweiz verlockend sein. Eine monatliche Arbeitslosenentschädigung von 3000 bis 4000 Franken, die hierzulande nur knapp zum Leben reicht, erlaubt in vielen anderen Ländern ein (finanziell) sorgenfreies Leben.
Die Statistik zeigt denn auch, dass die Zahl der Leistungsexporte insbesondere in vielen süd- und osteuropäischen Ländern stark zugenommen hat. Portugal zum Beispiel zählte 2013 gerade einmal 153 Personen, die Arbeitslosengelder aus der Schweiz bezogen. Seit 2018 dagegen waren es gemäss Seco-Zahlen fast immer über 1000.
Dieser Anstieg ist nur zu einem kleinen Teil damit zu erklären, dass mehr Menschen von der Schweiz nach Portugal ausgewandert sind, wie die Bezugsquoten der einzelnen Jahre zeigen: 2013 erhielten 3,9 Prozent der Portugal-Auswanderer Arbeitslosengeld aus der Schweiz, 2023 lag dieser Anteil bei 9 Prozent.
In Spanien, Polen und Ungarn war die Quote der Auswanderer, die Arbeitslosengeld aus der Schweiz bezogen, in den vergangenen Jahren ähnlich hoch. Die höchsten Werte erreichte jedoch die Slowakei, wo zeitweise fast jeder fünfte Auswanderer Arbeitslosenentschädigung aus der Schweiz erhielt.
2023 ging diese Quote in der Slowakei wieder etwas zurück, auf 13,3 Prozent. Im Vergleich zu westeuropäischen Staaten ist das aber nach wie vor sehr viel: In Deutschland (1,8 Prozent), Frankreich (1,8 Prozent) und Österreich (2,1 Prozent) wurde im Verhältnis zur Anzahl Auswanderer deutlich seltener Arbeitslosengeld aus der Schweiz bezogen.
Seco: «Vorteile überwiegen Missbrauchsrisiken»
Der Schweizerische Baumeisterverband (SBV) glaubt, dass die hohen Bezugsquoten in süd- und osteuropäischen Ländern mit der ungenauen Datenerfassung bei den RAV zusammenhängen könnten. Die Medienstelle kritisiert: «Stellensuchende können sich beim RAV als Maurer, Maler oder Strassenbauer bezeichnen, auch wenn sie gar nicht über die nötigen Abschlüsse und Qualifikationen für diese Berufe verfügen.»
Falsche Selbstdeklarationen würden die Arbeitslosenquote in einigen Berufsfeldern künstlich hoch halten und dazu führen, dass Personen, die kaum qualifiziert seien, sehr lange Zeit Arbeitslosengelder beziehen könnten. Ein Sprecher erklärt: «Die Stellensuchenden bewerben sich dann, wie vom RAV verlangt, auf zahlreiche Stellen. Weil ihnen aber die nötige Ausbildung fehlt, bekommen sie Absage um Absage.»
Diese «Sicherheitslücke» bei der Selbstdeklaration könnte laut SBV auch dazu beitragen, dass es bei der Übermittlung von Arbeitslosengeldern ins Ausland zu Verzerrungen kommt – zum Beispiel, wenn ein Leistungsexport bewilligt wird, weil der Gesuchsteller fälschlicherweise ein Berufsfeld angegeben hat, in dem die Arbeitslosenquote in der Schweiz sehr hoch ist.
Ebenfalls vorstellbar ist, dass die Arbeitsämter in einigen süd- und osteuropäischen Ländern deutlich weniger streng sind als jene in Deutschland, Österreich und der Schweiz – und dass der Bezug von Arbeitslosengeldern deshalb mit weniger Auflagen und Kontrollen verbunden ist. Im Extremfall ermöglicht das Ferien auf Kosten der Arbeitslosenversicherung, ganz ohne lästige Stellensuche.
Das Seco will «vereinzelte Missbrauchsfälle» nicht ausschliessen. Die Behörde ist aber der Überzeugung, dass die Vorteile des Leistungsexports allfällige Missbrauchsrisiken «bei weitem» überwiegen.
Zu diesen Vorteilen zählt das Seco, dass «die allergrösste Mehrheit» der Versicherten, die sich zur Stellensuche ins Ausland begebe, nicht in die Schweiz zurückkehre. Somit erhielten die Betroffenen spätestens nach drei Monaten Leistungsexport keine Leistungen mehr der Schweizer Arbeitslosenversicherung. «Damit ist die Bezugsdauer in der Regel kürzer, als wenn sie in der Schweiz geblieben wären», schreibt die Medienstelle.
Weiter sind die Verantwortlichen beim Bund der Überzeugung, dass die Schweizer Bedingungen für die Genehmigung solcher Exporte reichen, um einen ungerechtfertigten Bezug von Arbeitslosengeldern zu verhindern. Dazu gehöre etwa, dass die antragstellende Person mindestens vier Wochen lang zu einem RAV in der Schweiz gehen müsse, bevor ein Bezug der Arbeitslosenentschädigung im Ausland bewilligt werde.
Boris Zürcher, bis Ende 2024 Leiter der Direktion für Arbeit beim Seco und heute bei der ETH Zürich angestellt, hält einen systematischen Missbrauch ebenfalls für unwahrscheinlich. Er führt die grossen Unterschiede zwischen den Ländern vielmehr auf die unterschiedlichen Ausbildungsniveaus und Tätigkeitsgebiete der verschiedenen Arbeitsmigranten zurück.
«Viele Süd- und Osteuropäer sind in Tieflohnbranchen tätig oder gar in Saisonbetrieben. Sie haben daher ein höheres Arbeitslosigkeitsrisiko», sagt der Arbeitsmarktexperte. Aus diesem Grund sei es naheliegend, dass ihre Rückkehr ins Heimatland öfter mit einem Jobverlust zusammenhänge.
Letztlich bleibt unklar, wieso der Bezug von Schweizer Arbeitslosengeldern in einigen Ländern so stark zugenommen hat. Die meisten Arbeitgeberverbände, wie auch die Gewerkschaften, haben sich nicht vertieft mit der Thematik auseinandergesetzt – oder auf Anfrage der NZZ gar zum ersten Mal von diesen Zahlen gehört.
Der Bund wiederum zeigt wenig Interesse an einer Aufklärung. Das Seco hält eine Untersuchung, wie die Bedingungen zum Bezug von Arbeitslosengeld in Ländern wie Portugal, Polen und Slowakei genau aussehen, für unnötig.