Seit fast einer Woche fliegt Israel schwere Luftangriffe gegen die Hizbullah-Miliz. Die Bombardements haben in Libanon eine gewaltige Fluchtwelle ausgelöst. Zurück bleiben Geisterstädte – eine Reise ins Kampfgebiet.
Ali al-Abi hat Glück gehabt. Der 46-jährige Installateur ist mit seinen drei Kindern und seiner Frau in der Wohnung eines Geschäftspartners in Khalde untergekommen. Dieser habe sie ihm überlassen, sagt Abi, während er rauchend in dem Wohnzimmer voller Lüster und Häkeldeckchen sitzt. Draussen lenken finster aussehende Männer in Zivilkleidung den Verkehr und verteilen Wasser. Überall stehen vollgepackte Autos vor den tristen Wohnblöcken.
Khalde, ein sunnitisches Städtchen südlich des Beiruter Flughafens, ist zu einem Sammelpunkt für jene geworden, die aus der benachbarten Schiitenvorstadt Dahiye vor den israelischen Bomben fliehen. Immer wieder führt Israels Luftwaffe dort Schläge gegen Hizbullah-Ziele durch. «Ich unterstütze den Widerstand», sagt Abi über die Miliz. «Aber ich habe eine Familie. Ich will nicht, dass meine Kinder sterben.» Wie zum Beweis wird Dahiye am Freitagabend von den schwersten Explosionen seit Kriegsbeginn erschüttert. Laut der israelischen Armee galt der Luftangriff dem Hauptquartier des Hizbullah. Sechs Wohnblöcke werden dem Erdboden gleichgemacht.
«Wir sind jetzt eine Frontstadt»
Vor sechs Tagen ist aus dem schwelenden Grenzkonflikt zwischen der von Iran unterstützten Schiitenmiliz Hizbullah und Israel ein offener Krieg geworden. Nun gleicht Libanon einem untergehenden Land. Hunderte wurden getötet. Hunderttausende sind seit Montag aus den Kampfgebieten im Süden und im Osten Libanons geflohen. Sie strömen in Richtung der Hauptstadt Beirut, aber auch in die Berggebiete des Nordens, wo Drusen und Christen leben. Dort ist es sicherer.
In den ersten Kriegstagen verstopften Zehntausende Autos die Autobahn nach Norden. Die komplett überforderten Behörden brachten die Menschen schleunigst in Schulen unter. Nun versorgen Freiwillige die Flüchtlinge mit Lebensmitteln und Hygieneartikeln. Doch das reicht hinten und vorne nicht.
In Beirut sind alle Hotels voll. Wohnungsbesitzer verlangen Wucherpreise für ihre Unterkünfte. In Hamra, dem muslimisch geprägten Stadtteil im Westen, sind die Strassen verstopft. Männer einer lokalen Miliz versammeln sich, um für Ordnung zu sorgen. Daneben sitzen ein paar alte Beiruter in offenen Bars, trinken Gin und erzählen, dass sie das alles an 1982 erinnere.
Damals waren die Israeli mit ihren Panzerkolonnen bis in die Hauptstadt gerollt, um die PLO zu vertreiben. Die militanten Palästinenser hatten – ähnlich wie der Hizbullah heute – von Libanon aus Israel angegriffen. Es scheint unwahrscheinlich, dass die Israeli auch diesmal wieder so weit gehen werden. Trotzdem heizen die Gerüchte über eine bevorstehende Bodenoffensive die Panik und die Verzweiflung weiter an.
Man sei auf das Schlimmste vorbereitet, sagt Saleh Zeineddine, der Chef des medizinischen Dienstes im Krankenhauses der Amerikanischen Universität. Das Spital war bereits letzte Woche an seine Kapazitätsgrenzen gekommen, als hier nach den Pager-Attacken über 140 Verwundete ankamen. «Wir operierten ununterbrochen», sagt Zeineddine. Jetzt hat er andere Probleme. «Viele unserer Angestellten haben Familien im Kampfgebiet. Wir mussten ihnen sichere Unterkünfte besorgen.»
Gerüchte über einen Waffenstillstand
Während die Beiruter auf den Sturm warten, herrscht 50 Kilometer südlich bereits Ausnahmezustand. Dort ist die Küstenstadt Sidon zum ersten Anlaufpunkt für alle geworden, die vor den Bomben in Südlibanon fliehen. «Wir sind jetzt eine Frontstadt», sagt Mustafa Hijazi, der Chef des lokalen Krisenstabs, in seinem Büro. Er redet sich in Rage. Über 20 000 Flüchtlinge seien in der Stadt, es fehle an Matratzen und an Essensrationen. «Die Regierung sollte eigentlich einen Katastrophenplan haben. Davon ist nichts zu sehen.»
Die Stadt wirkt chaotisch und fiebrig. Ganze Familien quälen sich in schrottreifen Autos durch die Strassen, mit Matratzen im Kofferraum und Katzen auf dem Schoss. Andere sind ohne Hab und Gut in Schulen gestrandet, die kurzerhand zu Flüchtlingsunterkünften umfunktioniert wurden. «Am Montagmorgen fand noch Unterricht statt», erzählt ein Pfadfinder, der sich zum Freiwilligendienst gemeldet hat. «Am Mittag kamen die Flüchtlinge.»
Drinnen sitzen Leute wie Tarek Farah, der mit seiner zwölfköpfigen Familie aus dem tief im Süden gelegenen Grenzort Bint Jbeil gekommen ist. Er besass dort ein Café – davon sei aber nichts mehr übrig. Jetzt bewohnt er gemeinsam mit seiner Frau, seinen Kindern und seiner Mutter ein Klassenzimmer mit ein paar Matratzen auf dem Boden. Tareks 82-jähriger Mutter drohen die Medikamente auszugehen. «Wir haben das alles schon 2006 erlebt. Ich ertrage das nicht mehr», sagt sie.
Der Krieg müsse aufhören, findet auch Tarek. Doch nachdem am Donnerstagmorgen Gerüchte über einen möglichen Waffenstillstand die Runde gemacht hatten, stellte sich schnell heraus, dass weder Israel noch der Hizbullah derzeit bereit sind, den Beschuss einzustellen. Dabei scheint die Schiitenmiliz, die den Krieg im letzten Oktober einst begonnen hatte, mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Ihre Stellungen werden aus der Luft pulverisiert, ihre Kommandanten gezielt getötet.
Am schlimmsten trifft es die Syrer
Den Bewohnern der betroffenen Gebiete bleibt nichts anderes übrig, als zu fliehen. Aber trotz aller Solidarität sind sie nicht überall willkommen. Er habe von Flüchtlingen gehört, die abgewiesen worden seien, erzählt Tarek. Viele Libanesen fürchten, selbst zum Ziel zu werden, sollten sie potenziellen Hizbullah-Leuten Unterschlupf gewähren.
Noch schlimmer trifft es jene, die einst vor dem Bürgerkrieg in Syrien geflüchtet waren – fast zwei Millionen Syrer leben in Libanon. Nun, da alles zusammenzubrechen droht, sind sie die Allerletzten, die Hilfe bekommen. In Sidon campieren sie in Parks oder beim Busbahnhof. Ganze Familien schlafen dort zusammengekauert auf dem Teer. Bei den Flüchtlingsunterkünften seien sie abgewiesen worden, erzählen ein paar syrische Bauarbeiter, die mit ihren Kindern und Frauen aus der Schiitenstadt Nabatiye geflohen sind.
Einmal mehr zeigen sich die tiefen Gräben, die Libanon durchziehen und die das Land schon in Friedenszeiten zu zerreissen drohten. In den sunnitischen und christlichen Gebieten war der Hizbullah schon vor der Katastrophe, in die er das Land gestürzt hat, wenig beliebt. Nun droht sich das zu verschärfen. Es gehe jetzt darum, angesichts der israelischen Aggression seine Pflicht zu tun, sagt der Krisen-Chef Hijazi in seinem Büro. Andere Libanesen hingegen wünschen dem als herrisch empfundenen Hizbullah hinter vorgehaltener Hand die Vernichtung.
Im Kriegsgebiet ist die Stimmung geisterhaft
Derweil geht der Krieg unvermindert weiter. Hinter Sidon beginnt die Todeszone. Die Autobahn nach Süden ist wie leergefegt. Auf der Gegenfahrbahn stehen verlassene Autos, zum Teil mit offenen Türen. Ihre Besitzer haben sie während der Flucht einfach stehen lassen. An den Checkpoints verstecken sich die wenigen verbliebenen Soldaten der machtlosen libanesischen Armee in ihren Bunkern. Dahinter steigen olivgrüne Hügel in die Höhe. Dort oben gehen die israelischen Bomben nieder.
Tyros ist die letzte Stadt vor der Grenze. Im Gegensatz zum überfüllten Sidon ist die Stimmung hier geisterhaft. Alles ist leer, bis auf ein paar Männer auf Rollern, die scheinbar ziellos umherkurven. Die mobilen Stände der Gemüseverkäufer sehen aus, als ob ihre Besitzer Hals über Kopf geflohen seien. Manche Ladenbesitzer haben offenbar nicht einmal die Zeit gefunden, ihre Geschäfte zu verrammeln. Immer wieder sind Trümmer auf den Strassen zu sehen. Die schiitisch dominierte Stadt steht unter Beschuss.
Von den knapp 200 000 Bewohnern seien nur noch rund 4000 hier, sagt ein Mann namens Murtada, der in der Stadtverwaltung den Krisenstab leitet. Er sieht geschockt und erschöpft aus. Reden will er nicht – genauso wenig wie die Leute vom Roten Kreuz. Vor einem Krankenhaus am Stadtrand erzählt ein Sanitäter, dass immer wieder Verletzte ankämen. Im Hintergrund steigt Rauch von einer Einschlagstelle auf. Und über der nahen Grenze hinterlassen die israelischen Abwehrraketen kleine Wölkchen am Himmel.
Auch in Tyros gibt es noch Flüchtlinge
Der Krieg fühlt sich hier an wie ein finsterer Donnergott, der aus dem Nichts zuschlägt. Sonst liegt eine beängstigende Stille über den leeren Strassen. Im Hof einer Schule sitzen ein paar Männer auf Plastikstühlen. Sie sind aus den seit langem unter Beschuss stehenden Grenzdörfern geflohen und befinden sich schon seit Monaten in Tyros. Jetzt ist die grosse Flüchtlingswelle über sie hinweggerollt und hat sie zurückgelassen wie Treibgut.
Ihnen fehlten die Mittel, um weiter nach Norden zu fliehen, sagen sie. «Was sollen wir denn bitte tun?», fragt Sami Hammad, ein alter Bauer aus dem Dorf Beit Lif. «Wir leben schon seit Monaten so, wir haben kein Geld mehr.» Er hat sogar seine Ziegen mitgebracht. Sie grasen auf einem Feld nebenan. Eigentlich habe er sie in die Bekaa-Ebene im Osten Libanons in Sicherheit bringen wollen, sagt er. «Aber jetzt fallen auch dort die Bomben.»