Die «Islamische Republik» gilt heute als eines der säkularsten Länder der islamischen Welt – gerade weil die Bevölkerung über Jahrzehnte hinweg gezwungen wurde, eine vom Regime verordnete Form der Frömmigkeit zu praktizieren.
Das iranische Volk hat die verheerenden Folgen des Islamismus in den letzten Jahrzehnten am eigenen Leib erfahren. Wirtschaftlich hat das Regime das Land in Armut gestürzt. Aussenpolitisch hat es Iran isoliert und erniedrigt. Gesellschaftlich wurden dem Volk viele Rechte entzogen, vor allem den Frauen. Auch militärisch hat sich das Regime als Papiertiger erwiesen, wie sich gerade zeigt. All dies und die Erkenntnis, dass sich Republikanismus und Islamismus widersprechen (sprich: Islamische Republik), haben tiefe Spuren hinterlassen.
Die Abstände zwischen den Freiheitsbewegungen wurden in den letzten zwanzig Jahren immer kleiner. In der zweiten Phase der Grünen Bewegung im Jahr 2009 waren Parolen zu hören, die eine klare Abgrenzung von religiöser Einflussnahme auf die Politik forderten. Besonders prägnant war der Ruf nach «Unabhängigkeit, Freiheit, iranischer Republik», eine Antwort auf die zentrale Parole der Islamischen Revolution, «Unabhängigkeit, Freiheit, islamische Republik». Eine weitere und immer wiederkehrende Losung in den späteren Bewegungen lautete: «Weder Gaza noch Libanon – mein Leben für Iran!»
Beim Dey-Aufstand (2017/18) gingen die Menschen einen Schritt weiter: «Ihr instrumentalisiert den Islam und bringt das Volk zum Leiden», «Für Iran opfern wir sowohl den Islam als auch den Koran» oder «Reza Schah, deine Seele möge selig sein». (Reza Schah, Zeitgenosse Atatürks, entmachtete die Religionsgelehrten in Iran und leistete einen bedeutenden Beitrag zur Modernisierung des Landes – allerdings unter Missachtung der Verfassung.) Während des Aban-Aufstands (2019) kam erstmals der Ruf auf: «Wir geben unser Leben, um unser Land zurückzugewinnen!» Dies verdeutlichte, dass das Regime von Teilen der Bevölkerung als eine interne Besatzungsmacht wahrgenommen wird.
Auch in der jüngsten Protestbewegung «Frau, Leben, Freiheit» (2022/23), die unter anderem wegen des Ablegens des Kopftuches zwar am deutlichsten das ideologische Scheitern des Regimes offenbarte, jedoch häufig fälschlicherweise auf einen rein feministischen Protest reduziert wird, tauchten all die oben genannten Parolen wieder auf. In den rund achthundert von mir identifizierten Protestsprüchen waren Begriffe wie «iranisch», «Iran» und «Heimatland» etwa hundert Mal vertreten. Sie erwiesen sich als zentrale Schlagworte, die – unter anderem – bewusst einen Gegenpol zum Islamismus markierten, wie etwa die Slogans «Im Namen von Religion und Glauben wurde Iran verramscht» oder «Erst wenn der Geistliche im Leichentuch liegt, wird dieses Land ein wahres Heimatland» verdeutlichen.
Von den 75 000 Gotteshäusern sind 50 000 geschlossen
Auch im religiösen Sinne hat sich das Land stark verändert. Die «Islamische Republik» gilt heute als eines der säkularsten Länder der islamischen Welt – gerade weil die Bevölkerung über Jahrzehnte hinweg gezwungen wurde, eine vom Regime verordnete Form der Religiosität zu praktizieren. Diese staatliche Frömmigkeit hat bei vielen zu Ablehnung, bei einigen sogar zu offenem Hass gegenüber der Religion geführt. Mohammed Haj Abolghasem Dolabi, Mitglied des Expertenrats, beklagte angesichts der leerstehenden und verlassenen Moscheen: «Heute sind von den rund 75 000 Moscheen im Land 50 000 geschlossen – eine Katastrophe, die man beweinen muss.»
Gleichzeitig begann vor Dekaden ein intensiver innerer Prozess: Viele Menschen hinterfragen die Religion an sich und gelangen zu einer persönlichen Abkehr vom Glauben. Atheismus und Agnostizismus haben deutlich zugenommen. Parallel dazu wurden im Ausland islamkritische Werke iranischer Autoren aus dem 19. Jahrhundert wiederentdeckt, und es entstand eine einzigartige Menge an religionskritischen Schriften, deren Ausmass in der Geschichte Irans beispiellos ist.
Ein deutlicher Trend zur Rückbesinnung auf das vorislamische Erbe Irans ist ebenfalls erkennbar. Dies zeigt sich unter anderem an der zunehmenden Zahl von Besuchern am Grab von Kyros dem Grossen, einem König der Achämenidendynastie. Immer mehr Menschen tragen Symbole des antiken Iran, während islamische Namen bei der Namensgebung für Kinder zunehmend durch alte persische Namen ersetzt werden. Bemerkenswert sind auch Umbenennungen im In- und Ausland, wie Ali zu Kyros oder Fatemeh zu Shirin. Zudem werden Hochzeiten vermehrt nach antiken iranischen statt nach islamischen Verlobungszeremonien ausgerichtet.
Dies ist eine direkte Folge des vehementen Versuchs des Regimes, das antike Iran aus dem kollektiven Gedächtnis zu tilgen: Oft erweisen sich Ideologien als kontraproduktiv. Ja, ausgerechnet die islamistische Herrschaft hat in Iran zu einer politischen und religiösen Säkularisierung der Gesellschaft geführt. Doch auch Bildung (fünfzig Prozent der Studierenden in Iran sind Frauen), Verstädterung, das Internet und der damit verbundene Zugang zu globalem Wissen und alternativen Sichtweisen haben dabei eine wichtige Rolle gespielt.
Khameneis Angst vor dem Säkularismus
Nach der Islamischen Revolution (1979) wurden vereinzelt säkularistische Stimmen im In- und Ausland laut, welche bis zur Gründung der elektronischen Zeitschrift «Newsecularism» (2007–2013) eher als isolierte Einzelmeinungen galten. Erst mit dieser Publikation, deren Chefredaktor der in den USA lebende pensionierte Universitätsdozent Esmail Nooriala war, wurden zunächst der Säkularismus und wenig später das Konzept einer säkularen Demokratie zu zentralen Themen unter politischen Aktivisten, Journalisten, Juristen, Wissenschaftern im Aus- und im Inland.
Nooriala betonte stets, das islamische Regime beruhe auf einer bestimmten Interpretation des Schiitentums – es sei zugleich religiös und diktatorisch, und seine Alternative könne daher nur ein säkulares und demokratisches System sein. Er prägte auch den Begriff des «newsecularism», da er von der bereits existierenden Auffassung überzeugt ist, nicht nur die Religion, sondern jegliche Ideologie müsse vom Staat getrennt sein. Auf den Einwand, Demokratie beinhalte ohnehin Säkularismus, antwortete er unter anderem, dass islamistisch orientierte Reformisten von einer «religiösen Demokratie» sprächen – man müsse demgegenüber die «säkulare Demokratie» als Gegenentwurf hervorheben. «Newsecularism» sah sich in der Zeitung «Keyhan» wiederholt scharfer Kritik von Hossein Shariatmadari ausgesetzt, dem Sprecher des Revolutionsführers Ali Khamenei. Dieser bezeichnete das Magazin als «antiislamisch» – ein Vorwurf, den die Redaktion stets zurückwies.
So dominierend ist der Diskurs inzwischen, dass selbst die iranische Friedensnobelpreisträgerin und Juristin Shirin Ebadi – die noch vor rund einem Jahrzehnt bestrebt war, Demokratie und Geschlechtergleichheit aus dem Islam herzuleiten – sich in einem Interview 2022 unmissverständlich äusserte: «Die neue Verfassung Irans wird demokratisch und säkular sein, wir werden eine Trennung von Staat und Religion haben.» Die zahlreichen vor allem von Exiliranern bereits niedergeschriebenen frei zugänglichen Verfassungsentwürfe bestätigen Ebadis These.
Selbst in religiösen Bildungseinrichtungen, die eigentlich der Ausbildung regimetreuer Geistlicher dienen sollen, ist der Säkularismus inzwischen spürbar. Diese Haltung stiess bei Ali Khamenei auf scharfe Kritik. Am 9. Oktober 2012 erklärte er bei einem Treffen mit Geistlichen: «Wenn wir uns mit den Angelegenheiten des Systems und der Regierung nicht befassen, ist das Säkularismus.» Khameneis Warnungen vor dieser Entwicklung wurden sogar in einem eigenen Buch festgehalten.
Ein neues Iran existiert bereits in den Köpfen
In den vergangenen fünfzehn Jahren haben zahlreiche Zusammenkünfte iranischer Exilierter unter dem Dach «Kongress der säkular-demokratischen Kräfte Irans» vor allem in Deutschland stattgefunden. Ziel war es, eine Alternative zum Regime in Teheran zu schaffen. Ich selbst habe an fünf dieser Treffen teilgenommen. Zahlreiche Persönlichkeiten, unter ihnen auch der schiitische in Iran ansässige Geistliche Hossein Kazemeyni Borujerdi, der sich offen zum Säkularismus bekannte, richteten Botschaften an den Kongress.
Der Versuch, im Ausland eine tragfähige Alternative aufzubauen, ist letztlich gescheitert. Trotzdem zeigt sich: Die Alternative zu diesem Regime existiert bereits in den Köpfen vieler Menschen. Die entscheidende Frage ist, ob es dem Volk in Iran selbst nun endlich gelingt, diese umzusetzen. In diesem Zusammenhang erscheinen die Angriffe Israels und der USA nicht als förderlich. Zurzeit deutet so gut wie nichts darauf hin, dass ein Regimewechsel oder ein Aufstand des Volkes kurz bevorstehen könnte. Im Gegenteil: Das Regime lässt sich nun auf Verhandlungen mit den USA ein, will Frieden schliessen, allein im Interesse des Machterhalts. Es könnte damit Erfolg haben. Zum Leidwesen der Bevölkerung.
Mahdi Rezaei-Tazik ist ein iranisch-schweizerischer Politikwissenschafter und Iranist.