Die Journalistin Wiktoria Roschtschina wollte das Schicksal ukrainischer Zivilisten beleuchten, die in russische Gefangenschaft geraten. Sie hat dafür mit dem Leben bezahlt.
Niemand weiss, wie viele ukrainische Zivilisten genau sich in russischer Haft befinden. Tausende sind es bestimmt. Der ukrainische Ombudsmann Dmitro Lubinez sprach Ende vergangenen Jahres sogar von 16 000. Unbestritten ist, dass die russischen Besatzer im Kriegsverlauf nicht nur Kriegsgefangene machen, sondern in den von ihnen besetzten Gebieten auch in grosser Zahl Zivilisten gefangen nehmen, die sich gegen die Besatzung wehren oder aus anderen Gründen als feindlich betrachtet werden.
Welchen unfassbaren Grausamkeiten viele dieser Menschen ausgesetzt sind, zeigt der Fall der ukrainischen Journalistin Wiktoria Roschtschina. Im Rahmen eines grossen Austauschs von Gefallenen übergab Russland der Ukraine im Februar auch den verstümmelten, mumifizierten und Spuren von Folter aufweisenden Leichnam der 27-jährigen Frau. Unter anderem fehlten die Augäpfel, Teile des Gehirns und der Kehlkopf. Ihre Identität konnte nur durch einen DNA-Test bestätigt werden.
Eine nun veröffentlichte Recherche unter Leitung der französischen Organisation Forbidden Stories, an der sich mehrere Medien aus unterschiedlichen Ländern beteiligten, zeichnet die Stationen des Martyriums der unerschrockenen Frau nach.
Keine verlässlichen Informationen
Roschtschina war eine der ganz wenigen ukrainischen Journalistinnen, die aus den besetzten Gebieten berichteten. Russland kontrolliert etwa 20 Prozent des ukrainischen Territoriums. Das Gebiet ist in vieler Hinsicht wenn nicht ein schwarzer, so doch ein sehr dunkler Fleck. Die Informationslage ist noch schwieriger als in Russland selbst.
Eine verlässliche, unabhängige Berichterstattung gibt es vor Ort keine. Dafür ist die Situation zu angespannt, die Repression zu gross und die Rechtslage zu unsicher. Wenn etwas nach draussen dringt, dann meist per Hörensagen oder über die Propaganda-Kanäle des Kremls.
Über das Schicksal gefangener Zivilisten ist besonders wenig bekannt. Viele werden ohne offizielle Anklage festgehalten. Russland leugnet oft ganz grundsätzlich ihre Existenz oder gibt sie erst sehr spät zu.
Erstes Lebenszeichen nach acht Monaten
Roschtschina, die für die «Ukrainska Prawda» schrieb, wollte das Schicksal dieser Menschen und ihre systematische Misshandlung beleuchten. Dafür reiste sie mehrfach in die besetzten Gebiete. Einmal wurde sie dabei von russischen Sicherheitsdiensten festgenommen, kam aber nach einigen Tagen wieder frei.
Zu ihrer letzten Recherche brach sie im Juli 2023 auf. Sie reiste über das Baltikum nach Russland ein und von dort über Mariupol weiter in den russisch besetzten Teil der Oblast Saporischja. Der gleichnamige Hauptort der Region ist Roschtschinas Geburtsstadt. Bereits vor dem Krieg hatte sie oft von dort berichtet.
Laut Gewährsleuten, mit denen sie in Kontakt stand, sollte die Stadt Enerhodar, in unmittelbarer Nähe zum grössten Atomkraftwerk der Ukraine, als Basis für ihre Recherchen über das weitverzweigte Netz russischer Haftanstalten dienen. Wenige Tage nach ihrer Ankunft verliert sich aber die Spur.
Erst acht Monate später, im April 2024, gibt es wieder ein Lebenszeichen, als das russische Verteidigungsministerium der Familie mitteilt, Roschtschina gefangen zu halten.
«Institutionalisierte Folter»
Die Journalisten von Forbidden Stories und ihren Partnern haben mit ehemaligen Mitgefangenen sowie anderen Personen aus den besetzten Gebieten gesprochen. Gemäss ihren Berichten soll Roschtschina in Enerhodar festgenommen und nach einigen Tagen nach Melitopol überstellt worden sein. Melitopol dient den russischen Besatzern als Verwaltungszentrum für die Region Saporischja.
Dort sei sie während mehrerer Monate in den berüchtigten «Garagen» festgehalten worden. So wird eine Haftanstalt in der Stadt genannt, in der es regelmässig zu schwerer Folter kommen soll. Anwohner berichten, dass die Gegend um das inoffizielle Gefängnis bekannt dafür sei, dass Schreie von Gefolterten zu hören seien. Laut einer Zellennachbarin habe Roschtschina unter anderem Stichverletzungen an Armen und Beinen aufgewiesen.
Im Dezember wurde sie in die Untersuchungshaftanstalt 2 (russisch: «Siso 2») von Taganrog verlegt. Die ehemalige Strafanstalt für Frauen mit minderjährigen Kindern in der russischen Stadt am Asowschen Meer steht im Ruf, ein Ort besonderer Brutalität zu sein. Die Verprügelung neuer Gefangener, die in den meisten russischen Strafanstalten rituellen Charakter hat, soll hier so brutal sein, dass es dabei schon mehrere Todesfälle gegeben habe.
Der Bericht von Forbidden Stories schreibt mit Verweis auf ehemalige Gefangene von «institutionalisierter Folter», der auch Roschtschina nicht entkommen sein dürfte: Schläge, Elektroschocks, simuliertes Ertränken und angedrohte Vergewaltigungen seien demnach an der Tagesordnung.
Vertuschte Todesursache?
Im August hat sich Roschtschinas Zustand so stark verschlechtert, dass sie hospitalisiert werden muss. Sie verweigert die Nahrungsaufnahme. Gleichzeitig finden im Hintergrund Gespräche zwischen Russland und der Ukraine über einen Gefangenenaustausch statt, bei dem auch Roschtschina freikommen soll. Im einzigen Telefongespräch, das sie während ihrer Gefangenschaft mit der Familie führen darf, spricht sie von ihrer baldigen Freilassung.
Doch als Mitte September tatsächlich Gefangene ausgetauscht werden, ist Roschtschina nicht dabei. Stattdessen erhält ihre Familie im Oktober ein amtliches Schreiben vom russischen Verteidigungsministerium, das den Tod der jungen Frau festhält. Die Todesursache wird nicht erwähnt.
Angesichts des Zustands des Leichnams liegt der Verdacht jedoch nahe, dass die russische Seite Spuren verwischen sollte. Verletzungen am Hals und der fehlende Kehlkopf könnten auf eine Strangulation hinweisen.
Auf dem Übergabeprotokoll beim Austausch der Leichen war eine Abkürzung vermerkt, die auf Russisch «die vollständige Läsion der Arterien im Herzen» bezeichnet. Allerdings stand dort auch, dass es sich um den Leichnam eines unbekannten Mannes handle. Die wirkliche Todesursache soll nun eine forensische Untersuchung klären.