Der nigerianisch-amerikanische Schriftsteller berührt in seinem neuen Roman alle Modethemen der Zeit. Das garantiert Aufmerksamkeit. Aber will man sich damit zufriedengeben?
Teju Coles neues Buch stellt die Leser vor beträchtliche Herausforderungen. Nicht nur setzt es ein profundes Wissen über koloniale Zusammenhänge und aktuelle Debatten, über interkulturelle Kunst- und Musik- und Sklavengeschichte voraus. Man muss auch den zahllosen gebildeten Anspielungen und einem erklecklichen Aufwand an Namen gewachsen sein.
Freilich gehört der Protagonist Tunde, der wie sein Erfinder Cole in Lagos aufgewachsen ist, zur Bildungselite und unterrichtet an einer amerikanischen Universität Fotografie. Mit nonchalanter Lässigkeit bewegt er sich über den Campus wie durch die von ihm ausgesteckten Wissensfelder, streift Episoden der Fotografiegeschichte, die Konflikte zwischen weissen Kolonisatoren und amerikanischen Ureinwohnern erzählen, entfaltet Assoziationsräume, in denen ethnische Gewalt mit Fragen kultureller Identität und Herkunft verknüpft wird.
Professor Tunde ist etwas auf der Spur, das man das Gewaltgedächtnis der Bilder nennen könnte, in Filmen, Fotografien oder Gemälden. Es sind brennende Fragen, mittels deren Cole die als «weiss» gelesene Kulturgeschichte des Westens auf den Prüfstand stellt. Ein Unternehmen, dem er bereits in seinem Essayband «Vertraute Dinge, fremde Dinge» nachgegangen ist.
Rastlos streift er Themen wie Raubkunst und Kolonialismus
Nun besteht gelingendes Erzählen nicht nur darin, aktuelle Fragen aufzurufen, sondern auch darin, diese in einen narrativen Zusammenhang zu bringen, in dem sie ebenso konkret wie symbolisch sprechen. Tundes Erzählen aber ist wie von einem Springteufel besessen, so dass er rastlos und ohne Übergänge den zeitgeistigen Katalog abarbeitet. Bald fokussiert er auf die Provenienzforschung bei Turners Gemälde «Sklavenschiff», bald auf die Entstehung von Weltmusik oder das Alltagsleben in Bamako.
Tunde streift die grossen Themen Kolonialismus und Raubkunst, ohne in die Tiefe zu gehen. Die Erscheinungen sind ihm wichtiger als die Ursachen. So wird dieses brisante Material kaum je einer Konstellation eingeschrieben, aus der ein ästhetischer Mehrwert resultieren könnte.
Tunde lebt in Harvard mit der japanischstämmigen Sadako zusammen, für die er weitaus weniger Empathie empfindet als für seine Forschungsfelder. So gibt es über diese Beziehung nur Aussagen klischeehaften Zuschnitts, dass sie etwa ein «stabiler Rahmen» zusammenhalte, dass Sadako «analytisch» sei und Tunde improvisiert, wenn ihm danach ist.
Dabei hat Tunde eben erst mit seinem Geliebten Sandro gebrochen, was ein gewisses Konfliktpotenzial bergen müsste. Aber Tunde interessiert sich nicht für sein Beziehungsleben, sondern will einfach seine Forschungsfelder ohne Rücksicht auf erzählerische Ökonomie weitergeben; es ist diese Unbekümmertheit, die einem das Buch verderben kann.
Der Text beginnt mit einem Besuch des Paares in einem Antiquitätenladen in Maine. Anhand einer weiblichen Ci-Wara-Skulptur sinniert Tunde über die Frage, was die Weissen gegenüber den Afrikanern als echt empfinden. Statt dieser Frage nach einer kulturbedingten Authentizität nachzugehen, wechselt er zu einer zufällig im Laden signierten Karte von Laura Bush, deren Wohnsitz in der Nähe ist. Und schon fesselt ihn ein Flugblatt, das ihn in die blutige Geschichte der Familie Wells und deren Kämpfe gegen die Indigenen eintauchen lässt.
Auf der Heimfahrt mit Sadako entfaltet die Geschichte der Familie Wells in seinem Kopf weiter ihren Schrecken, und er durcheilt einige Jahrzehnte in der Manier eines Wikipedia-Artikels, bevor er, beim Abendessen mit Freunden, auf ein Buch von Susan Faludi verwiesen wird.
Schon bei der Zubereitung des Essens hört er Bachs Cello-Suiten und stellt fest, dass er von den Bach-Aufnahmen diejenigen von Hillary Hahn sowie die von Anner Bylsma bevorzugt. Das hilft ihm, Bach «weniger als einen Komponisten und mehr wie einen Philosophen oder Ratgeber» zu hören. Bald aber ist sein flüchtiger Geist bei den «captivity narratives» unterwegs, dem Topos der heldenhaften Rettung der amerikanischen Kultur, wie sie etwa exemplarisch in dem John-Wayne-Film «Der Schwarze Falke» vorgeführt wird.
Aber warum sich Tunde durch diesen Katalog des Grauens liest, welche Schlüsse er daraus zieht, wird nie Thema.
Schockmomente mit schwarzer Seife
Hexenverfolgung, Kolonisierung amerikanischer Indigener, Raubkunst und Johann Sebastian Bach, Anner Bylsma und John Wayne – bereits in seinem Essayband war Coles ausserordentliche Neugier für «weisses Wissen» und seine Vorliebe für abendländische Kultur spürbar.
Im Eingangstext installierte er sich explizit als Nachfolger James Baldwins in Leukerbad: «Da war ich nun, in Leukerbad, (. . .) ich bin schwarz wie er, ich bin schlank und habe auch eine Zahnlücke (. . .).» Diese Filiation diente auch der Erörterung von Baldwins Frage, inwieweit die «weisse» Kultur für einen Afrikaner zugänglich sei. Während Baldwin nicht daran glaubt, sich in den Werken der «weissen» Hochkultur gespiegelt zu sehen, stürzt sich Cole mit Enthusiasmus auf Bach, Shakespeare und die Museen.
Es gibt eine Stelle im Buch, wo Tunde seiner Liebe zur Bildung nicht bedingungslos nachgibt und tiefer in die Zusammenhänge zwischen westlich hergestellten Artefakten und afrikanischer Geschichte eintaucht. Als er sich mit schwarzer Seife reinigt, die er in einer Kasseler Galerie gekauft hat, erinnert er sich, wie unglücklich ihn diese Seife als Kind gemacht hatte. Denn die ihm von seinen Eltern aufgezwungene Seife diente dazu, sich die Staub- und Russemissionen eines multinationalen Konzerns in Lagos aus dem Gesicht zu waschen. Noch als Erwachsener ist für ihn die Benutzung der Seife mit Scham verbunden.
Hier gelingt Cole eine symbolisch dichte Passage, in der die kolonialen Verstrickungen an seinem Leib und in seinem Leben erfahrbar werden. Leider flüchtet der Text dann rasch in die Zusammenfassung einer Seminarsitzung über den Serienmörder Little, der zu Coles Erstaunen schwarz ist, dessen Motiven er aber nicht näherkommt.
In Littles Mordserie wie auch in andere vergangene Gewaltverbrechen könnte Licht gebracht werden, zöge man die historischen Kontexte und Gerichtsprotokolle bei. Aber Tunde ist Dozent für Fotografie, und seine Passionen sind nicht nur von ästhetischen Theorien geleitet, sondern auch von Idiosynkrasien: «Seine antikoloniale Neigung stört sich daran, überhaupt irgendetwas über britische Politik erfahren zu müssen.»
Überflüssiges Namedropping
Die Kritik hat die thematische Überfrachtung dieses Buches mit dem Begriff «Manifest» oder «tiefsinnige Meditation» aufzufangen versucht. Allein jene Sätze, deren elegante Denkansätze in Allgemeinplätzen verpuffen, lassen solche Einordnungen zweifelhaft erscheinen.
Tundes Reflexionen versacken in Banalitäten wie: «Das Leben verändert uns, und in diesem Moment ist es das, was er sich wünscht.» Oder sie schaffen leere Rätselhaftigkeiten: «Das Buch der Ereignisse ist stets in der Mitte aufgeschlagen.» Und auch die Anhänger von Stilblüten kommen nicht zu kurz: «Musik war einer der Orte, an denen ihr euch getroffen habt.»
Da «Tremor» hart an die Realität geschnitten ist und die Biografie des Autors in der des Protagonisten lesbar wird, schadet es nichts, wenn der Text mit einer Reihe von bekannten Namen auftrumpft. Doch die Häufung der zitierten Künstler, Musikerinnen, Berühmtheiten und Prominenten lässt an einem Sinn des Namedroppings zweifeln.
«Tremor» wurde mit viel Lob bedacht; es war die Rede von einem «meisterhaften Roman von einem der grössten Schriftsteller Amerikas»; sogar mit W. G. Sebald wurde er verglichen. Das verrät vor allem etwas von der Verlegenheit, die der Text erzeugt.
Selbst ein wohlwollender Leser muss alsbald argwöhnen, dass der Roman allzu willfährig in einen europäischen Erwartungshorizont hineingeschrieben ist. Die grosszügigen Lorbeeren lassen darum eher das schlechte Gewissen einer Literaturkritik erkennen, die allzu viele blinde Flecken hat. Das Buch selber gibt wenig gute Gründe für eine solche Wertschätzung.
Teju Cole: Tremor. Roman aus dem Englischen von Anna Jäger. Claassen-Verlag, Berlin 2024. 288 S., Fr. 33.90.