Im Flüchtlingslager Tulkarem im Westjordanland sind Feuergefechte mit den israelischen Streitkräften Alltag. Wer im Kampf fällt, wird zum Märtyrer verklärt.
«Geh rein, dann siehst du palästinensisches Blut», sagt der Mann mit dem schwarzen Vollbart. Er ist einer der über hundert Männer, die vor dem Haus im Flüchtlingslager Tulkarem im Westjordanland versammelt sind. Der Bärtige hat nicht zu viel angekündigt. Im Eingangsbereich wischen Frauen die Spuren des Angriffes weg, auf den Treppenstufen nach oben liegen noch viel frisches Blut und zwei Patronenhülsen.
In der ersten Etage sitzt Esram al-Ufi auf dem Sessel links neben der Tür und blickt auf die Blutspur in seinem Wohnzimmer. Dort, unter den fünf Einschusslöchern, neben der umgestürzten Wasserpfeife, lag vor einer Stunde noch sein Bruder Mohammed. Jetzt ist er tot. Der 36-Jährige wurde am Sonntag von israelischen Spezialkräften nach einem dreistündigen Schusswechsel tödlich verletzt. Um Esram herum sitzen etwa zehn Cousins und Brüder des Toten und rauchen.
«Mein Bruder lebte noch, als die Israeli hier waren, ich wollte ihn retten», sagt Esram, der eine Halskrause trägt. Doch die Spezialkräfte zogen den schwerverwundeten Mann aus dem Wohnzimmer, die Treppe herunter, luden ihn in ein Fahrzeug vor dem Haus und nahmen ihn mit. So berichtet es der Bruder. Wenig später erreicht Esram von einem Familienmitglied die Nachricht, die Gewissheit schafft: Sein Bruder Mohammed ist zum Märtyrer geworden, wie er sagt.
Israel tötet den Kommandanten einer brutalen Miliz
Mohammad al-Ufi war ein Kommandant der Tulkarem-Brigaden. Wenige Stunden nach dem israelischen Militäreinsatz veröffentlichte die Miliz ein Dokument auf ihrem Telegram-Kanal. «Das Blut des Märtyrers, Kommandant Mohammed al-Ufi, wird ein Fluch bleiben, der die Besetzung und ihre Agenten heimsucht, und wir werden den Weg fortsetzen, den wir eingeschlagen haben», schrieb die militante Palästinenserorganisation, die in unmittelbarer Nähe zur israelischen Grenze operiert.
Laut der Familie schoss Mohammed al-Ufi aus den Fenstern in der ersten Etage auf die Israeli, die das Haus umstellt hatten. Nach einer Stunde wurde er durch einen Schuss durch das Fenster verletzt, zwei Stunden danach stürmten die israelischen Soldaten das Haus. «Mein Bruder wurde von ihnen gesucht, weil er zum Widerstand gehört», sagt Esram al-Ufi. Sein Bruder lebte im Erdgeschoss, er selbst hat seine Wohnung ein Stockwerk weiter oben.
Die Tulkarem-Brigaden sind eine bewaffnete Gruppe, die sich zum Ziel gesetzt hat, die israelische Besetzung des Westjordanlands zu beenden. Das letzte Mal machten die Milizionäre im November mit einer grausamen Tat von sich reden. Sie ermordeten zwei mutmassliche Informanten der Israeli. Eine aufgebrachte Menge zog die Leichen der beiden Männer durch die Strassen. Später versuchte der Mob, die Leichen an einem Strommast aufzuhängen.
Laut einer gemeinsamen Mitteilung der israelischen Grenzpolizei, der Streitkräfte und Israels Inlandgeheimdienst war Mohammad al-Ufi ein gesuchter Terrorist, der an der Ermordung der zwei Männer beteiligt war. Ein israelischer Grenzpolizist wurde bei dem Feuergefecht mit Ufi schwer verletzt. Das Lager in Tulkarem ist seit einigen Monaten der wichtigste Schauplatz von tödlichen Zusammenstössen zwischen der israelischen Armee und militanten Palästinensern. Das Uno-Hilfswerk für die Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) hat das Lager 1950 etabliert. Über die Jahre hat es sich in ein Quartier von Tulkarem entwickelt, in dem auf engstem Raum in schäbigen Häusern über 10 000 Menschen leben.
Drei Salutschüsse für den gefallenen Kommandanten
Anderthalb Stunden nachdem die israelischen Soldaten abgezogen sind, stehen Kinder im Haus und deuten auf die Blutspuren auf dem Boden und der Decke. Mitarbeiter des Roten Halbmondes sammeln die auf den Treppenstufen versprengten Hautfetzen auf. Einem Cousin von Mohammed stehen die Tränen in den Augen, doch die meisten der umstehenden Menschen sind gefasst.
Für Bewohner des Lagers sind die Feuergefechte zwischen Milizionären und israelischen Soldaten nichts Neues. «Das letzte Mal kamen die Israeli vor zwölf Tagen in das Lager», sagt einer der Männer, die neben der Blutlache im Wohnzimmer stehen.
Es dauert nicht lange, bis sich zu den trauernden Familienangehörigen auch die ehemaligen Mitstreiter von Mohammed al-Ufi gesellen. Ein junger Mann mit umgehängtem Sturmgewehr umarmt den Bruder des getöteten Kommandanten. Im Untergeschoss versammeln sich kurz darauf ein Dutzend bewaffneter Kämpfer, um ihrem getöteten Kommandanten Respekt zu zollen. Sie stehen aufgereiht, mit erhobenen Gewehren, einige haben ihr Gesicht vermummt.
Die finster dreinschauenden Männer mit den Waffen steigen die Stufen herauf, die Frauen verschwinden in der Wohnung im Erdgeschoss. Zielstrebig schreiten sie in das Wohnzimmer ihres getöteten Anführers. Sie reichen Esram al-Ufi ein Sturmgewehr, und er gibt drei Salutschüsse aus dem Fenster ab, die im Raum widerhallen: der letzte Gruss für ihren Märtyrer. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden es nicht die letzten Schüsse sein, die in Tulkarem fallen.