Vor knapp dreissig Jahren verfilmte Steven Spielberg den Stoff. Die Neufassung ist eine schlüssige Auseinandersetzung der afroamerikanischen Community mit sich selbst.
Ist das Musical-Genre geeignet zur Bebilderung übelster Verbrechen? Sklaverei, Missbrauch, Rassismus: Kann solches Unrecht in ein Tanz- und Singspektakel übersetzt werden? Aus europäischer Perspektive nur mässig oder gar nicht. Man kennt als Schweizer oder Deutscher gängige Shows wie «Aladdin», «Starlight Express» oder «The Phantom of the Opera». Süffige Storys mit Happy End.
In Amerika sieht das anders aus: Es gibt Musicals über Suizid und Depressionen («Next to Normal») oder religiösen Fanatismus («The Book of Mormon»). Als Genre, sowohl in der Bühnen- als auch in der Filmfassung, bringt das amerikanische Musical die dialektische Signatur von Unterhaltung am klarsten zum Ausdruck: Das Schwere lässt sich auf leichte, das Leichte auf tiefgründige Weise vermitteln.
«The Color Purple» ist ursprünglich ein Briefroman. Alice Walker, 79, erhielt für das Werk 1983 als erste Afroamerikanerin den Pulitzer-Preis. Es ist eine Geschichte über Revolte und Emanzipation, eine Erzählung über Gewalt von Männern gegen Frauen und eine beeindruckende Parabel über die Kraft des Glaubens. Steven Spielberg verfilmte das Buch im Jahr 1985, Whoopi Goldberg und Oprah Winfrey spielten die Hauptrollen. Quincy Jones komponierte den Soundtrack. Der Film erhielt elf Oscar-Nominierungen.
Als Arbeitssklavin gedemütigt
2005 wurde der Stoff für den Broadway adaptiert und zum Bühnenhit. Die Geschichte einer jungen Schwarzen aus Georgia, die erst jahrelang vom Vater missbraucht und vom Ehemann als Arbeitssklavin gedemütigt wird, um am Ende ihren Peinigern zu entkommen und ein glückliches Leben im Kreis von Freunden und Kindern zu führen, liess sich überraschend gut in Showbiz-Szenarien übersetzen.
Tanz- und Gesangsnummern können einen Plot verkitschen, aber auch die Idee eines Dramas verdichten und mit Emotionalität aufladen. Und weil Gospel-, Blues- und Soulmusik grundsätzlich ein Medium afroamerikanischer Leidenserfahrung sind, war die vertonte Version des Romanstoffs vollkommen schlüssig.
Musik ist auch die ästhetische Kernressource von Blitz Bazawule. Der aus Ghana stammende amerikanische Regisseur ist zwar ein Novize im Kinoregiefach, hat aber im Auftrag von Beyoncé die vielgelobte Dokumentation «Black is King» gedreht. In seiner Neufassung des «Color Purple»-Stoffs gibt es Vaudeville-hafte Choreografien und Videoclip-artige Soloauftritte; Feldarbeiter verwandeln sich in Tanzkompanien und Kirchgänger in Gospel-Stars.
So findet eine permanente Selbstkommentierung der Handlung durch Musik statt. Die Revue wird im Fortgang zum Phantasma einer auf höherer Ebene besseren Welt. Wenn sich haushaltsversklavte Wäscherinnen in tanzende und singende Soul-Girls verwandeln, dann ist das immer auch eine Metamorphose im Zeichen des Aufstands. Die Musik, so zeigt es uns Bazawule, ist eine innere, die Figuren utopisch aufladende Energie.
Celie, jene erst misshandelte und dann mutig aufbegehrende Frau, wurde mit Fantasia Barrino glänzend besetzt. Die Gewinnerin der dritten Staffel der Casting-Show «American Idol» hat den Part bereits in der Broadway-Fassung gespielt. Auf der Leinwand kann das Publikum ihr durch Bazawules bisweilen schonungslos direkten, oft aber zärtlich-staunenden Blick noch näherkommen.
Zornige, wehrhafte Frauen
Dieses neue «Color Purple» ist eine Feier weiblicher Schönheit jenseits der kosmetischen, per Instagram verwertbaren Konventionen. Auch Danielle Brooks und Taraji P. Henson in weiteren Hauptrollen entsprechen nicht dem ästhetischen Püppchen-Ideal, mit dem sich Marketing und Werbung ihren Sexismus schönschminken.
Zorn, Humor und Wehrhaftigkeit zeichnen diese Frauen aus; ihre Physiognomien erscheinen als Spielflächen einer ganz eigenen, nicht in Beauty-Klischees übersetzbaren Würde. Dies ist umso wichtiger, als Celie immer wieder von Männern als hässlich verunglimpft wird. Sie habe das hässlichste Lächeln, das er je bei einem Mädchen gesehen habe, bekommt sie vom eigenen Vater zu hören. Wie grossartig deshalb später der Moment, wenn die erwachsene Frau ihrem Peiniger ein stolzes «Ich bin hier!» entgegenschleudert und geht.
Hier sein, am Leben sein, das heisst in der Ideenwelt Alice Walkers immer auch: sich als Geschöpf Gottes verstehen, als Ebenbild sakrosankter Schönheit. Der Regisseur Bazawule hat das konsequent in Filmkunst übersetzt. So wie sich die Soulstimmen zum mächtigen Lobgesang aufschwingen, so reifen die Darstellerinnen Szene für Szene dem Ideal höchster Anmut entgegen. Noch lange wird das strahlende Gesicht von Fantasia Barrino als Emblem dieser Anmut in Erinnerung bleiben. Anmut verstanden als Einheit von Güte und Tapferkeit, Kampfgeist und Zartgefühl.
Das Schlussbild zeigt einen Familienkreis. Schwarze Männer, Frauen und Kinder. Weisse kommen in dieser Filmwelt nur als Vertreter des «Falschen» vor, als Schinder und Ausbeuter. Der Freiheitskampf von Celie, so zeigt es uns Blitz Bazawule, ist eine Auseinandersetzung der afroamerikanischen Community mit sich selbst. Die Aussöhnung mit innerethnischen Spannungen, die Überwindung und Auflösung eines von Männern lange kontrollierten Gewaltzusammenhangs: Dies ist das grosse Projekt, dessen Durchsetzung sich Alice Walker verschrieben und das Bazawule nun in wirkmächtige Bilder übertragen hat. Es braucht dafür die Tatkraft der Frauen und womöglich den Segen Gottes. Aber nicht die Hilfe der Weissen.