Mit steigender geopolitischer Spannung und anhaltenden Konflikten in und um Europa sieht es nach vollen Auftragsbüchern für die Rüstungsindustrie aus. Doch es gibt neben strukturellen Problemen auch politische Risiken, welche die Aussichten trüben.
Der oft zitierte Stratege Clausewitz ist den meisten bekannt durch sein Bonmot: Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Ihm wird aber auch das Konzept des «Fog of War» zugeschrieben. Er meint damit, dass im «Nebel des Krieges» immer mit Unsicherheiten und unvollständiger Information zu rechnen ist. Deshalb kann selbst der detaillierteste Plan durch unvorhersehbare neue Informationen oder Entwicklungen aus den Fugen geraten und als sicher geglaubte Entwicklungen können sich als Wunschdenken herausstellen.
Mit dieser Situation ist man aktuell mit Blick auf die Entwicklung der Rüstungsindustrie konfrontiert. Angesichts wachsender geopolitischer Spannungen, mehrerer komplexer Konfliktherde – vom Nahen Osten bis zur Ukraine – und einem weit verbreiteten Eingeständnis, dass man gerade in Europa seit Jahrzehnten wohl zu wenig in die eigenen Streitkräfte investiert hat, darf man von rosigen Zeiten für europäische Rüstungskonzerne ausgehen. Doch, wer genau profitiert, ist etwas schwieriger zu beurteilen.
Erst massive Investitionen nötig
Erstens fehlt in Europa nach Jahrzehnten des Fokus auf Exporte und relativ geringer interner Nachfrage schlicht die industrielle Basis, um schnell viele Rüstungsgüter zu produzieren – von komplexen Systemen bis hin zu relativ simpler Munition beispielsweise für Artillerie. Es sind zuerst massive Investitionen in die entsprechenden Kapazitäten nötig, bevor die steigende Nachfrage gestillt werden könnte. Das eröffnet neue Möglichkeiten für Rüstungsindustrien aus anderen Märkten, die teils günstiger produzieren. So hat beispielsweise die südkoreanische Rüstungsindustrie den europäischen Markt entdeckt und liefert Panzer und andere Systeme an europäische Staaten, die bereits mit dem Aufbau begonnen haben. Gerade im besonders sensibilisierten Zentraleuropa findet auch ein Ausbau institutioneller Zusammenarbeit mit aussereuropäischen Rüstungsindustrien statt, beispielsweise durch das Abkommen zwischen Polen und Südkorea.
Zweitens gibt es zwar viele politische Ankündigungen in europäischen Staaten gerade unter dem Eindruck der vergangenen US-Wahl, endlich mehr in die eigenen Streitkräfte zu investieren. Doch von der «Zeitenwende» ist bisher wenig zu spüren. Werden Staaten tatsächlich mehr Steuergelder in die Hand nehmen, um Rüstungsgüter zu beschaffen? Noch dazu, wenn diese aufgrund der stark steigenden Nachfrage nun nochmals teurer sind? Oder wird der politische Druck steigen, mit den Rüstungskonzernen besondere Konditionen auszuhandeln?
Innenpolitisch hat der Wind bei der Bevölkerung bereits wieder gedreht. Gab es breiten Konsens für mehr Rüstung und starke Armeen direkt nach Beginn des Ukrainekrieges, so stehen nun wieder eher Sozialwerke, Inflation, Gesundheitskosten und Vorsorgesorgen im Zentrum. Welche Politiker sind angesichts von Schuldenbremsen, stark verschuldeten Staaten und innenpolitischem Druck tatsächlich willens, Rüstungsgüter im grossen Stil zu beschaffen, wie dies die europäische Rüstungsindustrie erhofft?
Strukturelle Probleme der Rüstungsindustrie
Schliesslich gibt es auch noch strukturelle Probleme innerhalb der Rüstungsindustrie. Bis heute zeichnen sich Rüstungsprogramme durch lange geplante Beschaffungszyklen und auf dem Reissbrett entworfene Waffensysteme aus. Dies basierend auf lange bekannten und erwarteten Szenarien, die auf der Erfahrung des jeweils letzten Konflikts fussen.
Diese Art der Beschaffung ist seit längerem unter Druck, denn sie passt nicht mehr zur Realität der modernen Konflikte, die hybride Kriegsführung, Terrorismus und klassische Waffensysteme sowie neue Fähigkeiten und improvisierte Waffen auf Basis ziviler Systeme vermischen. Man braucht heute nicht nur Spezialkräfte, sondern auch ein grosses Lager an Artilleriemunition. Man braucht heute nicht nur einen Stealth-Kampfjet gegen staatliche Bomber, sondern auch günstige Systeme zur Abwehr von Drohnenschwärmen. Man braucht nicht nur Störsender auf einem gepanzerten Fahrzeug, sondern auch eine digitale Infrastruktur zur Auswertung aller Daten, die durch immer mehr Sensoren erfasst werden. Das System, das heute entwickelt wird, aber erst in zehn Jahren bei der Truppe ankommt, wird sehr wahrscheinlich nicht für die Bedrohungslage in zehn Jahren geeignet sein.
Die klassische Rüstungsindustrie, die es sich in lange laufenden Verträgen und Planungszyklen bequem gemacht hat, hat noch keine Antwort auf dieses Dilemma. Stattdessen wird sie offen herausgefordert durch Rüstungsstartups. Der Gründer und CEO von Anduril – Palmer Luckey, der mit Virtual Reality seinen kommerziellen Durchbruch hatte – sieht denn auch in einem Interview die grossen Rüstungskonzerne und deren Verbandelung mit den Sicherheitsbehörden als Gefahr für die nationale Sicherheit.
Firmen wie sein Start-up seien viel besser in der Lage, neueste Technologien zur Auftragserfüllung zu nutzen und Produkte, abgestimmt auf die aktuellen Bedürfnisse, schneller zu entwickeln und zu erproben, was sich aktuell in der Ukraine gut verfolgen lässt. Dass er nicht allein ist, sondern viel eher für ein Umdenken im Silicon Valley und eine Rückkehr zu den rüstungsindustriellen Wurzeln dieses Innovationsclusters steht, sieht man auch daran, dass der bekannte Start-up Förderfonds Y Combinator erstmals ein Rüstungsstartup fördert, das neue Marschflugkörper entwickeln will.
Eine Rückkehr zu Zeiten der Friedensdividende nach dem Ende des Kalten Krieges scheint angesichts der aktuellen Spannungen höchst unwahrscheinlich. Es wird mehr Geld in die Rüstungsindustrie fliessen müssen. Davon dürften aber nicht unbedingt die etablierten Akteure am meisten profitieren, sondern jene Unternehmen – egal ob Start-up oder Tech-Gigant –, die ihre Lösungen gut bei Politikern positionieren können und viel «Bang for the Buck» liefern.
Nicolas Zahn