Mozarts Requiem szenisch? Das erscheint kurios, aber Romeo Castellucci, der Philosoph unter den führenden Opernregisseuren, wagt es trotzdem. Am Theater Basel wird die Koproduktion mit dem Festival von Aix-en-Provence gefeiert – zu Recht.
Eigentlich braucht das Stück keine Inszenierung. Denn was wäre da schon auf der Bühne zu zeigen? Ein angesichts der zu erwartenden Schrecken eher niedlich flackerndes Höllenfeuer vielleicht? Ein paar pittoreske Posaunen, pathetisch schmetternd zum Jüngsten Gericht? Oder gar eine Hand voll garstiger Teufel, die uns mit angeklebten Hörnern, falschen Pferdefüssen und langen Schwänzen das Fürchten vor dem Jenseits lehren? Alles Aber- und Kinderglauben. Wer der Musik aufmerksam zuhört, wird darüber sowieso bloss lächeln, denn das alles ist doch längst in den Tönen aufgehoben, nur viel grösser, gewaltiger, furchteinflössender. Wie also inszeniert man eine Totenmesse?
Romeo Castellucci, der tiefgründige Philosoph unter den führenden Regisseuren unserer Zeit, hat das scheinbar Unmögliche gewagt und sich dafür gleich die berühmteste Vertonung der liturgischen Missa pro Defunctis ausgesucht: Mozarts letztes Werk, das unvollendete Requiem in d-Moll KV 626, ergänzt um einige weitere kirchenmusikalische Werke. Castelluccis szenischer Essay kam 2019 am Festival von Aix-en-Provence heraus; jetzt ist die aufsehenerregende Inszenierung – mit drei Jahren Corona-Verzögerung – am koproduzierenden Theater Basel zu erleben. Und ein Erlebnis, das ist diese Produktion ohne Frage, bewegend und klug zugleich.
Die ganz grosse Frage
Denn natürlich weiss Castellucci, dass das gern als «Werktreue» verkaufte Mickey-Mousing, also die punktgenaue theatralische Darstellung dessen, was in Text und Musik ohnehin verhandelt wird, in diesem Fall vordergründig, ja sogar lächerlich wirken würde. Von Teufeln, Feuern und Posaunen deshalb keine Spur. Stattdessen weitet Castellucci, der als Gesamtkunstwerker wie üblich auch Bühnenbild, Kostüme und Lichtdesign verantwortet, den Blick beträchtlich. In einer für ihn typischen Mischung aus Kunstinstallation und szenischem Happening stellt er die ganz grosse Frage: nach dem Sinn des Sterbens.
Wer an dem schlicht «Requiem» betitelten Abend nun aber Beerdigungsstimmung erwartet, sieht sich getäuscht. Nur anfangs lockt der Regisseur die Zuschauer bewusst in diese Falle. Wenn sich der Vorhang öffnet, sehen wir im komplett schwarz ausgekleideten Bühnenraum eine ältere Frau, alleinstehend, müde und gelangweilt vom Leben. Im Fernseher vor ihrem Bett läuft irgendeine dieser grellbunten Rate-, Talk- oder Casting-Shows. Sie trinkt aus einem Glas auf ihrem Nachttisch, vielleicht ist es Wasser, vielleicht etwas anderes; achselzuckend knipst sie ein künstliches Kerzenlicht an und legt sich schlafen. Dass es ihr letzter Abend gewesen sein wird – wir ahnen es längst. Ein mittelalterliches Graduale, getragen und düster, sowie Mozarts «Trauermusik» KV 477 lassen kaum Zweifel.
Mit dem Einsatz des Introitus aus dessen Requiem gibt es Gewissheit. Auf der Bühne jedoch vollzieht sich eine verblüffende Wandlung: Die schwarzen Wände werden weiss, beim Hinaustragen der Schlafstatt, die zum Totenbett geworden ist, purzelt daraus eine quicklebendige junge Frau hervor. Gemeinsam mit dem bislang unsichtbaren Chor, der zunächst in Alltagskleidung, dann in immer ausgefalleneren Kostümen die Bühne bevölkert, stürzt sie sich in einen munteren Tanz- und Bilderreigen. Ein «Fest des Lebens» nennt Castellucci dies, und der Gegensatz zu Mozarts erhabenen Requiem-Klängen könnte kaum grösser sein. Die Regie aber exponiert mit diesem Kontrapunkt ihren zentralen Gedanken: Der Tod ist Teil des Lebens, die bekannte Formel «Media vita in morte sumus» gilt ebenso in Umkehrung – auch im Tod sind wir vom Leben umfangen.
In einer dichten Folge von teilweise atemberaubenden Sinn- und Rätselbildern führt Castellucci diese Idee szenisch durch. Zusammen mit der Choreografin Evelin Facchini bewegt er dafür ein gutes Dutzend Tänzerinnen und Tänzer, aber auch den gesamten Chor unablässig über die Bühne. Die Statisterie und der Chor des Basler Theaters, der die gesamte Musik des hundert Minuten ohne Pause durchlaufenden Abends auswendig singt, leisten Beeindruckendes bei dieser Aufführung. Gemeinsam erzählen sie unter anderem vom Lebensweg der eingangs verstorbenen Frau, deren unterschiedliche Altersstufen vom Kind bis zur Greisin in mehreren Verkörperungen gleichzeitig präsent sind.
Ein Bild bleibt besonders haften: Das Mädchen wird in einem vieldeutigen Initiationsritual mit Farben, Honig, Asche und Federn überschüttet – man könnte auch sagen: fürs Leben imprägniert. Die Farben und die Asche wiederum verwandeln sich in Kunst, tauchen nachfolgend als beredte Symbole in wechselnden Kontexten wieder auf, etwa als Teil eines Action-Paintings auf der weissen Bühnenrückwand. Auch sonst wird das Geschehen immer bunter, so bunt wie das Leben gewissermassen – hier tanzt man Bäumchen-wechsle-dich unterm Maibaum, dort gruppiert man sich um einen nackten Jüngling, vielleicht den heiligen Sebastian, zum Tableau vivant.
Quer durch die Äonen
Damit es nicht zu bunt und lebensfroh wird, setzt Castellucci einen weiteren Kontrapunkt: Über dem Gewimmel der immer weiter verknäulten Erzählstränge lässt er in erbarmungsloser Gleichförmigkeit Textprojektionen einblenden: ein «Lexikon der Extinktionen», wie er es nennt. Von den im Laufe der Zeit ausgestorbenen Tier- und Pflanzenarten geht es quer durch die Äonen, zu untergegangenen Sprachen und Zivilisationen, zerstörten Kulturstätten und Gebäuden – bis uns dieses Register der Auslöschungen plötzlich beunruhigend nahe rückt: Irgendwann versinken, durchaus kulturpessimistisch, auch die zwischenmenschliche Kommunikation, die Kunst und schliesslich das Theater selbst mitsamt dem Tag der Aufführung im Unwiederbringlichen.
Bei so viel Sterben im Grossen wie im Kleinen vermittelt auch die Musik keinen billigen Trost – zumal Ivor Bolton am Pult des Sinfonieorchesters Basel mit drängenden Tempi und etwas pauschaler Dynamik gerade in den Requiem-Teilen auf Zuspitzung setzt. Am Ende aber bleibt die Produktion konsequent bei ihrer Ambivalenz: Vor den Aschenhaufen der Zivilisation, die von der schräg gestellten Bühne allmählich Richtung Orchestergraben rieseln, räkelt sich ein Baby; der Knabensopran Eugen Vonder Mühll stimmt dazu ein überirdisches «In paradisum» an. Geht es also doch weiter? Beginnt alles von vorn? Darüber mag man gern noch eine Weile nachdenken.