Franz Kafka hat sich vor allem für die Erzählungen von Thomas Mann interessiert, während dieser das Werk des Prager Autors weitgehend kannte und zumal den «Schloss»-Roman sehr schätzte.
Dicht beieinander sind der hundertste Todestag von Franz Kafka am 3. Juni 2024 und der 150. Geburtstag von Thomas Mann am 6. Juni 2025. Diese kalendarische Zufallsnähe kann freilich nicht verdecken, dass zwischen den beiden wohl berühmtesten Schriftstellern deutscher Sprache im 20. Jahrhundert auf den ersten Blick eine Welt zu liegen scheint. Und doch: Die beiden haben sich hochgeschätzt. Kafka freilich konnte sich aufgrund seines frühen Todes vom Rang Thomas Manns noch kein vollgültiges Bild machen.
Der «Zauberberg», mit dem jener endgültig die Schwelle von nationaler zu weltliterarischer Prominenz überschritt, ist erst ein halbes Jahr nach Kafkas Tod erschienen. Als Romancier hat dieser ihn trotz den «Buddenbrooks» kaum wahrgenommen. Was ihn eigentlich fesselte, waren die Erzählungen, zumal «Tonio Kröger», aus dem er, der begeisterte Rezitator, gern vorlas, wie Thomas Mann von Max Brod erfuhr. «Mann gehört zu denen, nach deren Geschriebenem ich hungere», schrieb Kafka am 12. Oktober 1917 an Max Brod.
Selbst eine vom Autor selber eher geringgeschätzte Auftragsarbeit wie die Novelle «Ein Glück», die im Januarheft 1904 in der von Kafka regelmässig gelesenen «Neuen Rundschau» erschien, hat ihn, der gerade diese Novelle «unvergesslich» vorgetragen haben muss, laut dem Bericht von Max Brod immer wieder «entzückt», vor allem der Eingang: «Still! Wir wollen in eine Seele schauen. Im Fluge gleichsam, im Vorüberstreichen und nur ein paar Seiten lang, denn wir sind gewaltig beschäftigt.»
Diese Selbstpersiflage des Auftragsautors im Bilde des termingeplagten Psychologen oder Seelenarztes bereitete Kafka besonderes Vergnügen. Er hätte sie (oder hat vielleicht?) auch im ersten Satz der Anekdote «Das Eisenbahnunglück» (1908) finden können – ebenfalls einer Auftragsarbeit. Sie beginnt: «Etwas erzählen? Aber ich weiss nichts. Gut, also ich werde etwas erzählen.» Derselbe ironische Erzähleinsatz, das Kokettieren mit der Situation der Auftragserteilung: die Geburt des Erzählens als parodierte göttliche Schöpfung aus dem «Nichts» – desgleichen machte Kafka diebische Freude.
Spuren in Thomas Manns Tagebuch
Hatte Kafka nur von einem Bruchteil des Thomas-Mannschen Œuvres Kenntnis, so war es Thomas Mann vergönnt, zumal durch die Vermittlung Max Brods, das Gesamtwerk des Prager Dichters nach und nach kennenzulernen. Und er hat so gut wie alles gelesen, was von Kafka Zug um Zug aus seinem Nachlass ans Licht kam, inklusive der Tagebücher und Briefe.
Schon zu Kafkas Lebzeiten kam er mit ihm in Berührung, leider nicht persönlich, obwohl es möglich gewesen wäre, hielt jener sich zwischen 1903 und 1916 doch dreimal in München auf. Erst durch den Rezitator Ludwig Hardt, der im Sommer 1921 in Thomas Manns Haus aus Kafkas Erzählungen las, erfuhr er zum ersten Mal von dem ihm bis dato unbekannten Dichter, doch die Lesung Hardts löste sofort helle Funken der Faszination bei ihm aus, wie die Tagebücher ausweisen.
Wirklich vertraut mit Kafka wurde er freilich erst nach dessen Tod, als mit Max Brods Herausgabe des Romans «Der Prozess» im Todesjahr des Dichters dessen Entdeckung immer höhere Wellen schlug. Die «Hinterlassenschaft» Kafkas sei die «genialste deutsche Prosa» der letzten Jahrzehnte, urteilt Thomas Mann im Tagebuch vom 4. April 1935. Das Werk «dieses böhmischen Juden» gehöre überhaupt zu den «faszinierendsten Erscheinungen auf dem Gebiet der künstlerischen Prosa», schreibt er am 4. November 1940 in einem Brief.
Über keinen anderen zeitgenössischen Prosaautor hat Thomas Mann sich derart emphatisch geäussert, ohne auch nur eine Spur schriftstellerischen Rivalitätsdünkels. Dass dieser bei ihm so gänzlich fehlt, hat seinen Grund freilich nicht zuletzt darin, dass Kafka für ihn bei aller Faszination ein Fremder, ein ganz anderer bleibt, inkompatibel mit dem eigenen Werk. «Fremd, aber fesselnd», so die lakonische Definition seines Eindrucks von Kafkas Prosa im Tagebuch vom 2. Oktober 1951.
Verliebt in das Gegensätzliche
Thomas Mann hat sich in seinem einleitenden Essay zur amerikanischen Ausgabe von Kafkas «Schloss» aus dem Jahre 1941 Gedanken darüber gemacht, warum dieser, wie er von Max Brod wusste, dem «Tonio Kröger» besondere Sympathie entgegenbrachte. Die «Sehnsucht dieses Träumers», als den Thomas Mann ihn immer sieht, ging – mit der von ihm selber zitierten berühmten Formel aus «Tonio Kröger» geredet – nach den «Wonnen der Gewöhnlichkeit». Kafka seinerseits hat das «Verliebtsein in das Gegensätzliche» mit Recht als springenden Punkt des «Tonio Kröger» bezeichnet.
Diese zwischen zwei Welten hin und her irrende Sehnsucht bildet für Thomas Mann auch die Atmosphäre des Romans «Das Schloss». Im Protagonisten K. spiegelt sich für Thomas Mann die «Fremdheit und Einsamkeit des Künstlers (und obendrein des Juden!) unter den Einheimischen des Lebens, den Dorfbewohnern, die zu Füssen des ‹Schlosses› siedeln; Ausdruck eingeborener Einsamkeit, die sich selber missbilligt und so redlich wie hoffnungslos nach Einordnung, Einwurzelung, Bürgerrecht, einem ordentlichen Beruf, Heirat, kurzum nach den ‹Wonnen der Gewöhnlichkeit› ringt und strebt; der Ausdruck unbändigen und immer scheiternden guten Willens, ‹im Rechten zu leben›.»
Thomas Mann schlägt hier eine Brücke zu Kafkas vielleicht wichtigstem literarischem Vorbild, Gustave Flaubert, dem Verneiner des Lebens zugunsten des Idols der «littérature», der sich doch nach der Idylle einfachen Lebens sehnte und von dessen Menschen sagte: «Ils sont dans le vrai!» Ein Lieblingszitat von Kafka, das Thomas Mann nun ins Religiöse wendet: «Être dans le vrai, im Wahren lebend, das hiess ihm: Gott nahe sein, in Gott leben, richtig und nach dem Willen Gottes leben.» Doch er selber fühlte sich wie Flaubert «sehr fern von dieser Geborgenheit im Rechten und Gottgewollten».
Thomas Mann lässt hier eine verhaltene Distanz zu Kafka – wie zu Flaubert – spüren. Dass das Leben der «Leidenschaft der Kunst» zum Opfer gebracht werde, dagegen opponiert er vorsichtig: «Die Kunst ist nicht notwendig Produkt, Sinn und Zweck einer orgiastisch-asketischen Verneinung des Lebens, wie bei Flaubert; sie kann eine ethische Äusserungsform des Lebens selber sein, und nicht auf das ‹Werk›, sondern auf das Leben kann es dabei ankommen.» Das wird dem einst «unpolitischen» Thomas Mann vor allem vor dem Hintergrund des Faschismus immer wichtiger: dass der Schriftsteller sich nicht vom politisch-sozialen Leben absondern, sondern mit seinen Mitteln an ihm teilhaben darf und muss.
Kafka war indessen ein Zerrissener, dem es nicht gelingen wollte, «Einsamkeit und Sozialität» zu versöhnen, «weil seine Produktivität auf Zerrissenheit beruhte und auf dem Gefühl der Gottesferne, der Ungeborgenheit». Über alle Fremdheit, die er trotz seiner Faszination Kafka gegenüber empfunden hat, wölbt sich eine Brücke, auf der Thomas Mann ihm begegnet, ja auf der die beiden sich begegnen.
Ein religiöser Humorist
Es ist der Humor, der Thomas Mann im Laufe seines Schaffens immer wichtiger wird, ja als allumfassendes dichterisches Organon die einst favorisierte Ironie mehr und mehr herabstuft. Was aber den Humor über die Ironie erhebt, das ist zumal seine religiöse Komponente. Und sie bildet für Thomas Mann auch das Zentrum von Kafkas Welt. Im Schlussabsatz seines Essays «Die Kunst des Romans» (1939) charakterisiert er dessen Erzählwerk als «religiös-humoristische Traum- und Angstdichtung» und rechnet sie als solche «zum Tiefsten und Merkwürdigsten [. . .], was die Weltliteratur in prosaischer Form hervorgebracht hat».
In der eindringlichen Beschreibung der letzten Fotografie Kafkas, kurz vor dessen Tod, nimmt er in seinem Essay zum «Schloss» in diesem von Krankheit verschatteten Gesicht ein «halbes Lächeln» des rechten Mundwinkels wahr, dann formuliert er die kardinale These des Essays: «Der Name, der das Wesen dieses Dichters am besten bezeichnet, ist der eines religiösen Humoristen.» Die «Neigung zur Komik – einer sehr eigentümlichen und verwickelten Komik» – prägt für Thomas Mann das Werk Kafkas durch und durch, und sie hängt mit dessen Traumlogik zusammen, sind seine Dichtungen doch «oft ganz und gar im Charakter des Traumes konzipiert und gestaltet; sie ahmen die alogische und beklommene Narretei der Träume, dieser wunderlichen Schattenspiele des Lebens zum Lachen genau nach».
Zum Lachen genau! Eine bizarre Formulierung, aber wie haarscharf passt sie zur asketischen Präzision von Kafkas Schreibweise. Genauigkeit – die korrekte, bisweilen geradezu amtliche Sachlichkeit seines Stils, die Thomas Mann mitunter an Adalbert Stifter erinnert – und Lachen, sie bilden bei Kafka eine paradoxale Einheit, wie in der Tragikomik des «Schloss»-Romans. Diese Komik aber trägt für Thomas Mann stets den Nimbus des Religiösen.
Thomas Mann interpretiert Kafka, vor allem «Das Schloss», ganz im Sinne der Tradition einer negativen Theologie, die auf seinen «Doktor Faustus» vorausweist. Diese im Platonismus wurzelnde Theologie verwirft alle positiven Bestimmungen Gottes (wie seine Güte und Weisheit usw.) als Anthropomorphismen, die seine absolute Transzendenz, seine Unbegreiflichkeit und Unaussprechlichkeit, sein Ganz-anders-Sein verfehlen, denen nur verneinende Aussagen angemessen sind.
Von der «Negativität des Religiösen» redet auch Serenus Zeitblom, der Chronist des «Doktor Faustus», in Bezug auf das letzte Werk von Adrian Leverkühn, das sich der «Positivität der Welt», der «Lüge ihrer Gottseligkeit», einer «matten Gottesbürgerlichkeit» widersetze, aber das «religiöse Paradox» zum Klingen bringe, «dass aus tiefster Hoffnungslosigkeit, wenn auch als leiseste Frage nur, die Hoffnung» zu keimen vermöge. «Es wäre die Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit, die Transzendenz der Verzweiflung.»
In der Spur einer solchen Übertragung der Maximen negativer Theologie in eine paradoxal-grotesk-komische Poetik bewegt sich schon Thomas Manns Kafka-Deutung. «In der skurrilen Traumsymbolik des Romans repräsentiert für ihn das Dorf Leben, Erde, Gemeinschaft, die gute Normalität, den Segen menschlich-bürgerlicher Bindung, das Schloss aber das Göttliche, die himmlische Lenkung, die Gnade in ihrer Rätselhaftigkeit, Unnahbarkeit, Unfassbarkeit – und mit sonderbareren, komisch-kühneren Mitteln, einem unerschöpflicheren Reichtum an fromm-blasphemischer Psychologie ist das Göttlich-Übermenschliche niemals beobachtet, erlebt, charakterisiert worden als in diesem Buch eines unerschütterlich Gläubigen, um die Gnade Werbenden und ihrer so leidenschaftlich-rücksichtslos Bedürftigen, dass er sich sogar durch Schwindel und Tricks bei ihr einzuschleichen versucht.»
K. telefoniert ins Schloss
Besonders fasziniert haben Thomas Mann die beiden Telefonate von K. mit dem Schloss im zweiten und im fünften Kapitel des Romans, in welchen sich ihm das «Religiös-Komische» desselben besonders deutlich manifestiert. Da heisst es – Thomas Mann hat diese Stelle aus dem zweiten Kapitel in seinem eigenen Leseexemplar mit Bleistift angestrichen: «Aus der Hörmuschel kam ein Summen, wie K. es sonst beim Telefonieren nie gehört hatte. Es war, wie wenn sich aus dem Summen zahlloser kindlicher Stimmen – aber auch dieses Summen war keines, sondern war Gesang fernster, allerfernster Stimmen –, wie wenn sich aus diesem Summen in einer geradezu unmöglichen Weise eine einzige hohe, aber starke Stimme bilde, die an das Ohr schlug, so, wie wenn sie fordere, tiefer einzudringen als nur in das armselige Gehör. K. horchte, ohne zu telefonieren, den linken Arm hatte er auf das Telefonpult gestützt und horchte so.»
Gesang fernster, kindlicher Stimmen, der über die sinnliche Hörbarkeit hinauszugehen beansprucht. Eine telefonische Parodie des Engelsgesangs, wie wir ihn aus zahllosen Gemälden aus Mittelalter und Renaissance kennen?
Einmal mehr dürfen wir an «Doktor Faustus» denken, in dem das Motiv des Engelskonzerts bis hin zu Adrian Leverkühns «Apocalipsis cum figuris» eine bedeutende Rolle spielt, so in Wendell Kretzschmars Bericht über die scheinbar nur gesummte, «engelhaft über den Köpfen der Versammlung» schwebende «Musik von Ephrata», die auf den amerikanischen Sektierer Beissel zurückgeht; «die Sänger hätten kaum dabei die Münder geöffnet, noch die Lippen bewegt, mit wundersamster akustischer Wirkung». Keine «Musik für das Ohr» sei das gewesen, wie Kretzschmar ausführt, sondern ein «Klang tief in die Seele und nicht mehr oder noch minder als ein Vorschmack des Himmels».
Was aber sind das für Engel, die da im Telefon des Schlosses ihr geheimnisvolles Wesen treiben? Gemahnen sie nicht in ihrer Kontaktverhinderung an die Engel, die eifersüchtig auf die göttliche Auserwählung des Menschen herabschauen: Thema des «Vorspiels in Oberen Rängen» zum letzten Teil von Thomas Manns «Joseph»-Tetralogie? Er referiert ausdrücklich die Charakteristik der himmlischen Behörde durch den «Vorsteher» im fünften «Schloss»-Kapitel – eine Stelle, die Thomas Mann ebenfalls angestrichen hat: «Nun ist aber dieses Rauschen und dieser Gesang das einzig Richtige und Vertrauenswerte, was uns die hiesigen Telefone übermitteln, alles andere ist trügerisch. Es gibt keine bestimmte telefonische Verbindung mit dem Schloss, keine Zentralstelle, welche unsere Anrufe weiterleitet; wenn man von hier aus im Schloss anruft, läutet es dort bei allen Apparaten der untersten Abteilungen oder vielmehr, es würde bei allen läuten, wenn nicht, wie ich bestimmt weiss, bei fast allen dieses Läutewerk abgestellt wäre. Hier und da aber hat ein übermüdeter Beamter das Bedürfnis, sich ein wenig zu zerstreuen, besonders am Abend oder bei Nacht, und schaltet das Läutewerk ein; dann bekommen wir Antwort, allerdings eine Antwort, die nichts ist als Scherz.»
Nichts als «Scherz»! Thomas Mann zitiert ausdrücklich diesen Begriff und resümiert: Der ganze Roman werde «nicht müde, das groteske Unverhältnis zwischen Mensch und Transzendenz, die Inkommensurabilität des Göttlichen mit allen Mitteln zu kennzeichnen und in allen Farben spielen zu lassen.» Und nun folgt die Übertragung jener Theologie in eine Poetik des Grotesken: «Die Fremdheit, Unheimlichkeit, koboldhafte Unlogik, das Nicht-sich-sprechen-Lassen, die Grausamkeit, ja Unsittlichkeit – nach menschlichen Begriffen – der oberen Mächte – des ‹Schlosses›». Bleiben diese anthropomorphen Begriffe der Transzendenz doch immer unangemessen.
Umkehrung des Erhabenen
Hier werfen Thomas Manns «Geschichten Jaakobs», der erste Teil seiner «Joseph»-Tetralogie, ihren Schatten voraus: «Es ist das fromm-verzweifelte, obstinateste ‹Ringen mit dem Engel›, das je vorgekommen, und dass es mit Humor geschieht, mit einem Geist heiliger Satire, der die Tatsache des Göttlichen, Absoluten vollkommen unangetastet lässt, ist das Neue und rührend Gewagte daran.»
Tiefgründigeres ist kaum je über Kafka gesagt worden und hat Thomas Mann beinahe keinem anderen Dichter zuteilwerden lassen. Und er fährt fort: «Kafka ist darin religiöser Humorist, dass er die Inkommensurabilität, das Unverständliche und nach Menschenmacht nicht Beurteilbare der Überwelt nicht [. . .] durch das Mittel grandioser Steigerung ins überwältigend Erhabene darstellt» , sondern sie in eine «unzugängliche und unberechenbare Bürokratie und unabsehbare Akten- und Instanzenwirtschaft mit einer undeutlichen Beamtenhierarchie von unauffindbarer Verantwortlichkeit sieht und beschreibt – satirisch also, wie ich sagte, damit aber mit der aufrichtigsten, gläubigsten, nach dem Eindringen in das unverständliche Reich der Gnade unablässig ringenden Unterwürfigkeit, die sich eben nur in Satire statt in Pathos kleidet».
Das Undarstellbare, Unsagbare, alle menschliche Vernunft Transzendierende scheint sich laut Thomas Mann für Kafka nicht mehr in der doch nach menschlichem Mass geschaffenen Sprache des Erhabenen und des Gotteslobs («Grosser Gott, wir loben dich») zum Ausdruck bringen zu lassen, sondern – vom Erhabenen zum Lächerlichen ist es eben nur ein Schritt – anscheinend nur noch in seiner satirischen, parodischen, grotesken, «auf geheimnisvolle Weise zum Lachen reizenden» Umkehrung des Erhabenen.
Seinen Exzerpten aus dem «Schloss» hat Thomas Mann die Bemerkung angefügt, hier sei die «Andersartigkeit der vollkommenen Welt [. . .] mit negativem Vorzeichen» ausgestattet. Thomas Manns Kafka-Deutung basiert auf einer Theo-Poetologie, in der sich unverkennbar auch Spuren des jüdischen Witzes und des jüdischen Humors überhaupt wiederfinden lassen, welche durchaus mit dem Heiligen bis an den Rand der Blasphemie zu scherzen pflegen. Bezeichnend, dass es gerade die jüdischen Leser und Interpreten der «Joseph»-Romane waren, die auch deren religiösen Humor rühmten, während dieser von christlicher Seite anfänglich vielfach gründlich missbilligt wurde, weil man es für sträfliche Blasphemie hielt, mit dem Heiligen dergestalt umzugehen.
Thomas Manns Kafka-Essay ist inmitten des Grauens des Zweiten Weltkriegs geschrieben. Vor dem dunklen geschichtlichen Hintergrund, von dem man schon einen vorausgeworfenen Schatten in Kafkas Welt zu spüren vermöchte, mag eine positive Theologie nicht mehr möglich zu sein, lässt sich Gott nicht mehr umstandslos loben, seine Güte und Weisheit preisen, sondern anscheinend nur noch in Paradoxen über ihn reden. Zweimal verwendet Thomas Mann in Bezug auf Kafka den Begriff der «Gottesferne», der metaphysischen «Ungeborgenheit».
Und doch bleibt nach seiner Überzeugung bei Kafka, wie bereits zitiert, «die Tatsache des Göttlichen, Absoluten vollkommen unangetastet», ebenso wie in seinen eigenen «Joseph»-Romanen, die zumal in der Gestalt ihres Protagonisten immer wieder auf den Humor setzen, ja die Mittel der Groteske, der Satire und der Parodie einsetzen, um der Transzendenz keine anthropomorphen Vorstellungen zu unterstellen, ohne freilich wie Kafka das Religiöse durchgängig im Gegenlicht der Negativität zu zeigen.
Verwandlung in einen Igel
Bei aller Fremdheit, die Thomas Mann Kafka gegenüber empfunden hat, steht er ihm gerade in dieser Fremdheit näher, als seine Leser bis heute wahrgenommen haben. Das zeigt mehr noch als die «Joseph»–Romane und «Doktor Faustus» die «fromme Grotesk-Novelle», als die er seinen vorletzten Roman, «Der Erwählte», in einem Brief an Samuel Singer am 13. Februar 1948 bezeichnet hat. Schon diese knappe Charakterisierung schlägt eine Brücke vom Kafka-Essay und von der ihn tragenden Idee der «religiösen Humoristik» zu seinem Roman, in dem bis anhin kaum je erkannte Spuren des befremdet bewunderten Antipoden zu beobachten sind.
Thomas Mann hat immer wieder betont, dass der fromme Stoff nur durch seine parodische Verzerrung wieder lebendig zu machen sei. Diese erreicht ihren Gipfel in der Verwandlung des Protagonisten auf der Felseninsel, auf die er sich selbst verbannt und durch die er radikal aus der Menschenwelt ausscheidet – in der Verwandlung nämlich in ein borstiges Untier. Diese groteske Verwandlung wird gegenüber der Verwandlung des Protagonisten von Kafkas gleichnamiger Erzählung in einen Riesenkäfer sogar noch gesteigert, indem sie eine Verkleinerung bis zur Grösse eines Igels zur Folge hat.
Freilich folgt – und das unterscheidet Thomas Mann fundamental von Kafka – der Verwandlung eine Rückverwandlung, die Groteske löst sich auf, das Religiöse tritt am Ende fast ungebrochen aus seiner Negativität hervor, vor deren letzten Konsequenzen Thomas Mann zurückscheut. Beinahe wäre es ihm mit dem Schluss des «Doktor Faustus» ähnlich gegangen. Ursprünglich hatte Thomas Mann die Beschreibung des Schlusses von «D. Fausti Weheklag», dem Weltabschiedswerk von Adrian Leverkühn, wesentlich versöhnlicher gestaltet.
Doch er akzeptierte schliesslich die Kritik Theodor W. Adornos an dieser Beschreibung, die ihm «zu optimistisch» geraten sei, in der er «zu viel Licht angezündet, den Trost zu dick aufgetragen» habe, wie Thomas Mann in der «Entstehung des Doktor Faustus» gesteht. Und Adorno selbst schreibt in seinem Essay «Zu einem Porträt Thomas Manns», er habe die entsprechenden Seiten «zu positiv, zu ungebrochen theologisch» gefunden. «Ihnen schien abzugehen, was in der entscheidenden Passage gefordert war, die Gewalt bestimmter Negation als der einzig erlaubten Chiffre des Anderen.»
Die Abschwächung der Negation als Chiffre des ganz Anderen gründet freilich tief im Brunnen der religiösen Überzeugung Thomas Manns. Die theologische Grundidee der «Joseph»-Tetralogie ist der Gedanke der zunehmenden Selbstvermenschlichung Gottes aufgrund des Bundes mit seinem Volk – gipfelnd in seiner Menschwerdung, die zwar ausserhalb des heilsgeschichtlichen Horizonts des Romans steht, aber gleich der Morgenröte hinter ihm bereits aufleuchtet und immer wieder ihre Strahlen auf die vorchristliche Welt der Tetralogie vorauswirft. Die Vermenschlichung Gottes bedeutet aber, dass er nun nicht mehr nur der ganz Andere, sondern auch in menschlichen Kategorien zu fassen ist. Das ist der Hintergrund der Versöhnlichkeit, mit der Thomas Mann den Schluss der Vita Kafkas umhüllt.
Die letzten Worte des Kafka-Essays von Thomas Mann gehören nämlich der «Gnade», die eine Leitidee seiner späten Jahre ist und die zumal den metaphysischen Hintergrund des «Doktor Faustus» bildet. Die Gnade ist die transzendente Macht, die für ihn unverfügbar und unkalkulierbar bleibt, vom verborgenen Gott nach seinem vom Menschen nicht einsehbaren Mass gespendet wird. Dieses «unverständliche Reich der Gnade» ist nach Thomas Mann stets der Gegenstand der Sehnsucht Franz Kafkas gewesen, der tiefere Grund seines Humors, und er habe sie, so der letzte Satz des Essays «gewiss, ohne Bitterkeit, an sein Herz gedrückt, als er starb».