Wiederentdeckung
Siedfleisch wird lange und langsam gekocht und danach schnell serviert. «Diese kräftige Mahlzeit besitzt so grosse Qualitäten!», schreibt der Spitzenkoch Andreas Caminada. Weshalb geriet es in Vergessenheit?
«Diese kräftige Mahlzeit besitzt so grosse Qualitäten!», schreibt der Spitzenkoch Andreas Caminada vom Schloss Schauenstein in «Pure Leidenschaft», dem Kochbuch, in dem er seine liebsten Rezepte für einfache Küche versammelt hat. «Aber», so beklagt er im gleichen Atemzug, «Siedfleisch ist leider eine Seltenheit auf hiesigen Speisekarten geworden.» Höchste Zeit also, diesen Klassiker wieder öfter zu servieren.
Denn viel mehr als gutes Rindfleisch, ein wenig Gemüse, eine Handvoll Gewürze, reichlich Wasser und etwas Zeit braucht es für Siedfleisch nicht. Die gleichen Zutaten landen übrigens auch im Suppentopf, wenn die Franzosen ihren «Pot-au-feu» kredenzen oder die Italiener einen «Bollito misto» anrichten. Im Süden kommt auch Kalb- und Hühnerfleisch oder Zunge mit in den Topf, aber im Grunde ist es das gleiche Rezept.
In Österreich heisst das Gericht Tafelspitz und ist auf jeder besseren Speisekarte mit Kren, also Meerrettich, zu finden. Tafelspitz deshalb, weil das Fleisch aus der Keule verwendet wird, deren wichtigstes Teilstück wiederum die Spitze ist.
Welches Fleisch passt am besten?
Damit wären wir beim wichtigsten Teil, nämlich dem Fleisch. Rindfleisch muss es sein beim Siedfleisch. Bindegewebe und Fett machen das Fleisch saftig, also kein Naserümpfen, wenn der Metzger einem einen grossen Mocken durchzogenes Fleisch einpackt. Es sind die Stücke mit viel Bindegewebe wie Schulterspitz, Huft oder auch der «falsche Tafelspitz», ein Stück aus dem Rinderhals, der sich ebenfalls prima zum Sieden eignet.
Natürlich geht auch ein Stück vom Kalb: Die Unterspalte zum Beispiel. Kalbfleisch ist zarter, Rindfleisch aromatischer. Wer Markbein mit in die Pfanne gibt, gibt der Brühe zusätzlich Kraft.
Sieden bedeutet sanft kochen
Das Fleisch wird je nach Grösse 2 bis 4 Stunden lang mit Zwiebeln, Sellerie, Petersilie, Lorbeerblättern, Pfefferkörnern und Karotten sanft gekocht bzw. gesotten. Fertig ist es, sobald man eine Gabel mühelos einstechen und wieder herausziehen kann.
Wenn Fleisch über längere Zeit im kochenden Wasser gart, verliert es Saft, wird faserig und trocken. Darum darf die Flüssigkeit beim Siedfleisch nicht kochen, also es darf nicht sprudeln. 90–95 °C sind optimal, so dass es leise köchelt und ganz kleine Blasen aufsteigen. Dabei schmilzt das Kollagen im Bindegewebe, es entsteht Gelatine, und das Fleisch wird weich, zart und saftig. Notabene ein langer Kochvorgang, aber einer, der nur wenig Aufmerksamkeit erfordert.
Besonders würzig wird der Sud, wenn die Zwiebeln erst auf der Schnittseite dunkel angeröstet werden. Manche Rezepte schwören darauf, das Fleisch erst zu salzen, bevor es in die Flüssigkeit kommt, bei anderen kommt das Salz erst nach einer Stunde Kochzeit in die Brühe und dann aber ordentlich viel davon. So oder so kann der Sud vor dem Servieren nochmals reduziert und abgeschmeckt werden.
Das Fleisch muss richtig geschnitten werden
Die Art und Weise, wie das Fleisch nach dem Kochen geschnitten wird, entscheidet über Gelingen und Verderben der Optik. Schöne Scheiben gibt es, wenn das Fleisch quer zur Faser geschnitten wird. Mit etwas Sud und Gemüse im Teller angerichtet, passt frisch geriebener Meerrettich, Schnittlauchsauce, Senf oder eine Salsa verde ausgezeichnet dazu.
Wer das Siedfleisch in der Brühe erkalten lässt, kann es am nächsten Tag fein aufschneiden und auf einem Butterbrot mit Meerrettich, Schnittlauch, Kapern oder Essiggurken servieren.
Und damit zurück zu Andreas Caminada, der sein Herz ans Siedfleisch verloren hat: Der Spitzenkoch serviert einen kalten Siedfleischsalat mit Schalotten und feinst gewürfelten Rüebli, Sellerie und dunklem Kürbiskernöl. Das Rezept ist die reinste Freude und zeigt mit seinen warmen und frischen Noten das ganze Spektrum der Delikatesse Siedfleisch auf. Denn das ist – warm oder kalt – ein Genuss!
Andreas Caminadas Grundrezept für Siedfleisch
Wer will, serviert das Siedfleisch warm aufgeschnitten mit dem Gemüse. Wer geduldig ist, lässt das Fleisch auskühlen und serviert es mit der Vinaigrette als hocharomatischen Sommersalat. Die Zutaten für die beiden Varianten finden Sie hier:
Rezept für 6 Personen
Zutaten für das Fleisch:
5 l Geflügelfonds
1 Karotte
1 Knollensellerie
2 weisse Zwiebeln
2 Lorbeerblätter
5 weisse Pfefferkörner
1 Kalbstafelspitz (zirka 600 g)
Salz, Pfeffer aus der Mühle
frisch geriebener Meerrettich, Kerbel, Schnittlauchspitzen und Senfblüten
Zutaten für die Vinaigrette (für den Siedfleischsalat):
50 g Karotte, feinst gewürfelt
50 g Knollensellerie, feinst gewürfelt
50 g Lauch, feinst geschnitten
50 g Schalotten, feinst gewürfelt
1 TL Senf
50 ml Bouillon (vom Siedfleisch)
1 EL Weissweinessig
Kürbiskernöl
Salz, Pfeffer
Schnittlauch, fein geschnitten
frischer Meerrettich, nach Belieben
Zubereitungszeit:
zirka 45 Minuten plus zirka 2 Stunden Siedezeit
Zubereitung – warmes Siedfleisch:
Den Geflügelfonds mit dem Wurzelgemüse und den Gewürzen aufkochen. Das Fleisch mit Salz und Pfeffer würzen und im Sud etwa 2 Stunden gar ziehen lassen, bis es weich ist. Zum warm Servieren das Fleisch in Scheiben, das Wurzelgemüse in Stücke schneiden. Siedfleisch in den Teller legen, das Gemüse verteilen und etwas Tafelspitzsud angiessen. Frischen Meerrettich, Kerbel, Schnittlauchspitzen und Senfblüten daraufgeben.
Zubereitung – Siedfleischsalat:
Für den Salat den Tafelspitz wie oben beschrieben zubereiten. Im Sud auskühlen lassen. Fein aufschneiden und auf dem Teller drapieren.
Für die Vinaigrette das fein geschnittene Gemüse mit der Schalotte in etwas Öl andünsten, 1 EL Weissweinessig dazugeben und mit Salz und Pfeffer abschmecken. Senf, Bouillon und etwas Kürbiskernöl dazugeben, gut vermischen und das Siedfleisch damit beträufeln. Grosszügig mit Schnittlauch bestreuen. Etwas Meerrettich darüberreiben.
Das Grundrezept stammt aus dem Buch:
Andreas Caminada: Pure Leidenschaft
erschienen im AT-Verlag