Gerade erst hat die Tonhalle Zürich erfolgreich ein neues Konzertmodell ausprobiert – da bleibt ihr eine Woche später bei einem anspruchsvollen Programm das Publikum weg. Das erzählt einiges über die Tücken des heutigen Musikbetriebs.
Was für ein Unterschied: Als Zürichs Musikdirektor Paavo Järvi in der vergangenen Woche mit dem Tonhalle-Orchester die 5. Sinfonie von Gustav Mahler zur Aufführung brachte, war das Haus mehrmals hintereinander bis auf wenige Plätze ausverkauft. Beim neuen Konzertformat «Crush», das bevorzugt Menschen unter dreissig anlocken soll, sah man obendrein ein Publikum, so jung, so aufgeschlossen und neugierig, wie es sich alle Veranstalter nur wünschen können.
Jetzt, eine Woche später, stand Järvi schon wieder am Pult seines Orchesters, neben ihm die norwegische Weltklassegeigerin Vilde Frang, die bei ihren erfreulich regelmässigen Auftritten in Zürich noch jedes Mal für Begeisterungsstürme gesorgt hat – aber allein im Parkett der Tonhalle blieb am Mittwochabend geschätzt mehr als ein Drittel der Sitzplätze leer. Auch bei den Wiederholungen am Donnerstag und Freitag schien die Nachfrage nach Karten nicht grösser.
Alles andere als ein Wagnis
So etwas kann passieren, es ist kein Beinbruch und bei Tonhalle-Konzerten zum Glück noch immer die Ausnahme. Aber es zeigte exemplarisch das Dilemma auf, mit dem sich die Veranstalter in derzeit offenbar wachsendem Ausmass konfrontiert sehen: Wagen sie programmatisch zu viel, entfernen sie sich zu weit von den vorgespurten Pfaden des Kernrepertoires, bleibt ihnen das Publikum weg.
Das Problem ist bekannt, und um dem zu begegnen, setzt die Tonhalle auch in diesem Fall auf ein lange bewährtes Gegenkonzept: Sie schickt den Chefdirigenten höchstselbst ins Rennen und mit ihm eine prominente Solistin – die Publikumsbindung an die eingeführten Künstler soll aufwiegen, was dem Programm an äusserer Attraktivität fehlt. So die Idee. Hier hat sie trotzdem nicht funktioniert, und das stimmt nachdenklich.
Denn eigentlich ist ein Programm, das die Ohren zunächst mit Beethovens dritter «Leonoren»-Ouvertüre freibläst und darauf das 2. Violinkonzert von Béla Bartók und die 5. Sinfonie von Carl Nielsen folgen lässt, beim besten Willen kein «Wagnis» mehr. Bartók wie Nielsen sind etablierte Klassiker der Moderne und ihre Werke inzwischen rund ein Jahrhundert alt. Allerdings hat in Zürich während des zurückliegenden Jahrzehnts weder bei Bartók noch bei Nielsen eine tiefergehende, geschweige denn kontinuierliche Repertoirepflege stattgefunden. Womöglich rächt sich das nun und mag die Zurückhaltung der Besucher erklären.
Järvi in seinem Element
Immerhin hat Paavo Järvi schon bei seinem Amtsantritt 2019 erklärt, dass er künftig die hierzulande in der Tat viel zu wenig gespielten nordischen Sinfoniker mehr in den Fokus rücken möchte. Gleich sein Einstand mit «Kullervo» von Jean Sibelius, noch in der Tonhalle Maag, gelang grandios. Aber auf eine Fortsetzung warten wir fünf Jahre (und eine Pandemie) später immer noch. Dass es nun einen neuerlichen Anlauf mit Sibelius’ dänischem Zeitgenossen Carl Nielsen gab, ist deshalb uneingeschränkt zu begrüssen; es bleibt indes in dieser Saison auch wieder nur bei dem einen Versuchsballon. So kann ein Interesse für weniger gängiges Repertoire kaum wachsen.
Wie viel Potenzial hier ungenutzt bleibt, zeigte die Aufführung von Nielsens Fünfter. Järvis Gespür für den weiten Atem und die raumgreifenden Entwicklungsbögen in dieser Musik ist beeindruckend, die Naturmystik, das Elementare, der ganz eigene, herbe, manchmal raunende Ton – das Orchester trifft ihn so sicher, als spielte man seit Jahren nichts anderes. Järvi nimmt uns mit auf ein Hörabenteuer, in dessen mäandernden Verläufen man sich herrlich verlieren kann. Das schliesst stimmig an Vilde Frangs leidenschaftliche Interpretation des Bartók-Konzerts an. Man kann das Stück strenger, klassizistischer spielen, technisch souveräner jedoch kaum. Vor allem aber lebt hier jeder einzelne Ton. In dicht verwobenen Dialogen zwischen der Solistin und dem Orchester beginnt die Musik zu sprechen. Man hätte ihr mehr Zuhörer gewünscht.