Der gebürtige Russe Semyon Bychkov hat sich sofort nach Kriegsausbruch in der Ukraine politisch klar positioniert. Bei seinen Gastauftritten in der Tonhalle erlebt man ihn nun auch als Künstler wild entschlossen und tiefernst.
Er war der Erste, und die Tatsache, dass er gebürtiger Russe ist, verlieh dem Vorgang erhebliche Symbolkraft: Am Abend nach Putins Überfall auf die Ukraine liess der Dirigent Semyon Bychkov in Prag vor einem Konzert die ukrainische Nationalhymne anstimmen, mit vollem Chor und Orchester. Deren erste Textzeile lautet beziehungsreich: «Noch sind der Ukraine Ruhm und Freiheit nicht gestorben.» Bychkov setzte damit ein Signal des Widerstands gegen den Aggressor – zu einem Zeitpunkt, als etliche westliche Staaten noch um eine klare Position zum Bruch des Völkerrechts durch Russland rangen.
Bychkov, der 1952 in Leningrad geboren wurde und bereits 1975 aus politischen Gründen ins Exil ging, schuf mit seinem international beachteten Eintreten für die Ukraine zugleich einen Massstab für viele andere russische Künstler im Ausland, die sich – sofern ihre persönliche Situation es zuliess – umgehend klar von den Taten des Putin-Regimes distanzierten, unter ihnen der Pianist Evgeni Kissin und der Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, Kirill Petrenko. Dass Bychkov seither nicht von seinem politischen Engagement abgelassen hat, machten auf subtile Weise zwei Gastauftritte beim Tonhalle-Orchester Zürich in dieser Woche deutlich.
Meister der Camouflage
Auf dem Programm der beiden Abende stand zu Beginn das 1. Cellokonzert op. 107 von Dmitri Schostakowitsch aus dem Jahr 1959. Das für den Schostakowitsch-Vertrauten Mstislaw Rostropowitsch geschriebene Stück bietet dem Solisten vordergründig eine glänzende Bühne, und der österreichische Cellist Kian Soltani, ein häufig gesehener Gast in Zürich, weiss sie für sein intensives, klangsinnliches und ausdrucksstarkes Spiel zu nutzen. Bychkov indes denkt nicht daran, den Solopart bloss orchestral zu grundieren oder den scheinbar verspielt-ironischen ersten Satz zu einer Virtuosennummer zu machen, wie es leider häufig bei Wettbewerben geschieht.
Bychkov weiss nämlich, dass es sich bei dem unwiderstehlichen Ohrwurm-Motiv, das den Kopfsatz eröffnet und nachher das gesamte Stück fast manisch durchzieht, um eine grotesk verdrehte Variante von Schostakowitschs persönlicher Ton-Signatur D-S-C-H handelt, und wo immer solche Viertonfolgen bei diesem Meister der Camouflage auftauchen, ist Ohrenspitzen angesagt. Tatsächlich ist das gesamte Werk durchzogen von abgründigen Anspielungen, etwa auf den sowjetischen Propagandafilm «Die junge Garde», auf den Liederzyklus «Aus jüdischer Volkspoesie» – das Schlüsselwerk für Schostakowitschs inneres Dissidententum – und auf ein erklärtes Lieblingslied Stalins.
Bychkov deutet das Werk folglich als Tragödie des Individuums, das sich gegen die Willkür des Kollektivs behaupten muss, und entsprechend ungemütlich wird es für den Solisten: Immer wieder fährt ihm das Orchester gleichsam über den Mund, das Solohorn – beeindruckend präsent gespielt von Ivo Gass – bläst zum Angriff, und Kian Soltani muss teilweise in der höchsten, der menschlichen Stimme so ähnlichen Lage des Cellos klagen, flehen, schreien, um hier nicht von der Masse niedergewalzt zu werden. Ein Kampf auf Leben und Tod ist das, keine lustige Unterhaltung; die Musik aber gewinnt jene existenzielle Dringlichkeit, die bei Schostakowitsch-Interpreten die Spreu vom Weizen scheidet.
Fatalistisches Finale
Nach diesem Parforceritt war man dankbar, dass Soltani die Gemüter mit einer originellen Zugabe ein wenig besänftigte: Zusammen mit der ausgezeichneten Cellogruppe des Tonhalle-Orchesters spielte er ein eigenes Arrangement von Schostakowitschs Filmmusik, die unter dem englischen Titel «The Gadfly» bekannt ist. Ganz anders klingt diese Musik, schwärmerisch und romantisch, aber man traute dem Frieden nun nicht mehr – schliesslich heisst der Titel übersetzt «Die Bremse».
Auch bei der ohne Pause folgenden 4. Sinfonie von Johannes Brahms klingt anfangs etwas nach vom Zähneknirschen und Hadern im Schostakowitsch-Konzert. So kleinteilig und Beethoven-nah hört man den aus kleinsten Motivbausteinen ins Lyrisch-Kantable wachsenden Kopfsatz selten. Erst in den Mittelsätzen wird der Ton konzilianter, aber befreit und aufgeknöpft, wie so oft, klingt auch das Scherzo nicht. Denn Bychkov behält immer im Blick, was noch kommt: der Schlusssatz, die Passacaglia – später Vorbild für viele ähnliche Sätze bei Schostakowitsch und der finsterste Finalsatz von Brahms überhaupt. Wie Paavo Järvi im Sommer in Luzern wendet Bychkov die Musik gegen Ende ganz ins Fatalistische. Licht oder Hoffnung gibt es darin nicht mehr. Dieser Dirigent macht keine Kompromisse.