Jonathan Nott springt beim Tonhalle-Orchester für Zürichs ehemaligen Opernchef Franz Welser-Möst ein – eine glückliche Wahl. Doch dann sagt in letzter Minute ein weiterer Künstler ab.
Glück im Unglück wünscht man sich, wenn wieder einmal wenig nach Plan läuft. Damit sah sich jüngst auch die Tonhalle-Gesellschaft konfrontiert. Eigentlich hatte sie für diese Woche ein Wiedersehen mit Franz Welser-Möst geplant, dem früheren Generalmusikdirektor der Oper Zürich. Welser-Möst war erst im Frühjahr am Lucerne Festival für Riccardo Chailly eingesprungen und hatte dort ein Osterkonzert mit Beethovens Neunter überaus eindringlich gerettet. Das liess nun auch Grosses für das Hauptwerk der Tonhalle-Konzerte erwarten, Gustav Mahlers «Lied von der Erde». Doch es sollte nicht sein, Welser-Möst musste seine drei Dirigate wegen einer Erkrankung absagen.
Bis zu dem Zeitpunkt dürfte dies nur für etwas erhöhten Puls bei den Verantwortlichen gesorgt haben, nicht aber für ein Wechselbad zwischen Bangen und Hoffen. Solche Wechsel kommen vor, es gibt dafür eingespielte Routinen hinter den Kulissen. Zudem hatte man das besagte Glück im Unglück rasch gefunden: in Gestalt von Jonathan Nott, dem Chefdirigenten des Orchestre de la Suisse Romande. Doch es wurde noch einmal eng: Als kurzfristig auch der Tenor-Solist Limmie Pulliam absagen musste, fand man erst am Veranstaltungstag einen Last-Minute-Einspringer, der sozusagen direkt vom Flughafen-Gate aufs Podium sprang.
Fragen von Leben und Tod
Das Paradoxe an solchen Ausnahmesituationen: Für das Publikum können sie zu Sternstunden werden. Denn sie führen zu einem Höchstmass an Konzentration und Engagement. So auch bei Benjamin Bruns, dem (zweiten) Retter in der Not, der den fordernden Tenorpart im «Lied von der Erde» so souverän und überzeugend sang, als habe er bloss auf diese Chance gewartet. Man spürte die Anspannung, sie führte aber nur an wenigen Stellen zu einer kurzen Verspannung der Stimme, sorgte im Übrigen jedoch für eine emotionale Dringlichkeit, die dem existenziellen Tonfall dieses Spätwerks gut ansteht.
Bruns kommt dabei die zielgerichtete Lesart Notts entgegen, der in Mahlers raffiniertem Zwitter zwischen Liederzyklus und Sinfonie klar dem Lied und der jeweils präzise umrissenen Textaussage den Vorrang gibt. Dass es darin noch um weit grössere Fragen von Leben und Tod geht, tönt Nott in den ersten fünf Liedern immer nur an, wie Schatten, die sich plötzlich über die Musik legen. Mit sinfonischer Wucht schlägt der Sinnsucher Mahler bei ihm erst im Finale zu, dem erschütternden «Abschied». Doch auch dort behält Nott im Blick, dass alles von der Botschaft der darin sehr frei vertonten altchinesischen Gedichte getragen werden muss.
Fernöstliche Atmosphäre
Allerdings bleibt der Bariton Iurii Samoilov hier vieles schuldig. Er kämpft merklich mit der Partie, in der es auf jede Nuance, jede noch so subtile Färbung eines Wortes ankommt. Zudem macht die für ihn schlicht zu hoch liegende Jenseits-Vision des Schlusses («und ewig blauen licht die Fernen») einmal mehr deutlich, wie sehr die Besetzung mit einem Bariton Mahlers Originalversion mit Mezzosopran unterlegen ist. Die tiefere Männerstimme harmoniert obendrein weniger mit den intensiven Monologen der Holzbläser, die wesentlich die fernöstliche Atmosphäre des «Abschieds» prägen.
Das Programm hatte diesen Exotismus schon im ersten Teil vorbereitet: mit dem Zyklus «Sept haïkaï», in dem Olivier Messiaen seine Japan-Begeisterung reflektiert. Messiaens musikalische Haikus bieten nicht nur den ausgezeichneten Solisten des Tonhalle-Orchesters reizvolle Aufgaben, allen voran dem Pianisten Hendrik Heilmann. Sie schärfen mit ihrer offenen Form und dem skizzenhaften Ton auch das Ohr für die einzigartige Klangwelt bei Mahler. Solche Querverweise machen ein originelles Konzertprogramm aus.