Musikdirektor Paavo Järvi und das Tonhalle-Orchester entschlüsseln geheime Botschaften in der Musik von Schumann und Schostakowitsch.
Musik sei eine Sprache, die jeder verstehe, heisst es. So konkret wie in der gesprochenen Sprache geht es darin freilich nicht zu. Denn solange nicht irgendein Text gesungen wird, hat die Musik keine präzisen Begriffe, die ein Gefühl oder etwas Gegenständliches klar benennen würden. Die Romantik sah gerade darin einen Vorzug dieser Kunstform: Die Töne wirkten direkt auf unsere Emotionen, ohne den Umweg über das Wort. Das mache bestimmte Gefühlslagen universell verständlich, ganz gleich, in welchem Sprachraum wir uns befänden. So weit die schöne, in der Praxis aber nur teilweise belegte Theorie. Bezeichnenderweise waren es oft die Komponisten selbst, die sich nicht mit dem Ungefähren begnügen und die Aussage ihrer Töne lieber konkreter machen wollten.
Ein raffiniertes Mittel dafür sind von jeher Tonsymbole, die auch als Buchstabenfolgen eine Bedeutung ergeben. Der Klassiker schlechthin ist die Tonfolge B-A-C-H, die bereits vom Thomaskantor selbst in mehreren seiner Werke angebracht wurde, als eine Art Urheber-Signatur. In den jüngsten Konzerten des Zürcher Tonhalle-Orchesters erklangen nun Werke von zwei Komponisten, die sich meisterhaft auf das Spiel mit solchen tönenden Chiffren verstanden.
Allgegenwärtige «Chiara»
Im ersten Teil spielte die Pianistin Anna Vinnitskaya gemeinsam mit Paavo Järvi und dem Orchester das Klavierkonzert von Robert Schumann. Der war als musikalisch-literarische Doppelbegabung geradezu besessen von versteckten Botschaften in seiner Musik. Unterdessen sind viele davon entschlüsselt, und so weiss man, dass beispielsweise bei der Tonfolge C-H-A-A Ohrenspitzen angezeigt ist. Denn dies sind die in Tönen darstellbaren Buchstaben des Namens «Chiara» – eine allgegenwärtige Chiffre für Schumanns Frau Clara. Fast alle Themen des Klavierkonzerts kreisen darum, und die biografischen Umstände lassen kaum Zweifel daran, dass Schumann in dem Werk die Geschichte seines mühsamen, am Ende aber erfolgreichen Kampfes um eine Ehe mit Clara rekapituliert.
Genau so legen jedenfalls Vinnitskaya und Järvi ihre stimmige Interpretation des Stückes an: als modellhaften Durchbruch vom Dunkel des leidenschaftlichen erstens Satzes zum strahlenden Triumph des Finales. Vinnitskaya verleiht dabei insbesondere dem «Chiara»-Motiv eine immer andere Tönung: Mal klingt es brütend-resignativ, mal schwärmerisch und schliesslich fast euphorisch. Auch das Zusammenspiel mit dem Orchester wandelt sich vom konfrontativen Gegeneinander des nicht ganz präzise gelungenen Beginns zu immer befreiterem Miteinander im Schlusssatz.
Mahler-nahe Intensität
Einen ähnlichen Bogen beschreibt die 10. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch, an dessen 50. Todestag die Musikwelt in diesem Jahr erinnert. Schostakowitsch benutzt in dem Werk gleich mehrere Ton-Chiffren, besonders exzessiv aber seine in Töne übersetzten Initialen «D. Sch.». Sie deuten auf ein sehr politisches Programm hin: Die Zehnte ist demnach ein Manifest des bitter errungenen Sieges über den Diktator Stalin, dessen Tod im Entstehungsjahr 1953 die Phase des sogenannten Grossen Terrors in der Sowjetunion beendete und auch den Komponisten wieder Hoffnung schöpfen liess.
Järvi legt seine mit Mahler-naher Intensität zugespitzte Interpretation konsequent als fesselnde Erzählung an: Auch darin führt der Weg von der finsteren Resignation des Beginns über manchen Umweg ins Licht des irrwitzig überdrehten Schlusses, in dem das «D-Es-C-H»-Motiv über alles Leid triumphiert. Man müsste um die genauen autobiografischen Hintergründe nicht einmal wissen, um zu spüren: Hier feiert ein Künstler mit existenzieller Dringlichkeit die Selbstbehauptung des Individuums gegen Willkürherrschaft und Repression.