Sie betonen: «Wir möchten keine Expats als Mieter.» Wie die Familie Schwarz Zürich prägt.
Am Anfang gibt es Skeptiker. Leute, die sagen: «Das sind doch Drecksspekulanten, das sind Abzocker-Brüder.» Leute, die sagen: «Das schönste Quartierrestaurant verschwindet.» Leute, die sagen: «Das neue Haus wird zu viel Schatten werfen.»
Der Plan: eine moderne, zur Strasse hin aufgelockerte Blockrandbebauung mit Restaurant. 27 Wohnungen mit platzsparenden Grundrissen auf fünf Etagen. Eine Dachterrasse sowie Gemüsebeete für alle Mieter. Fernwärme und eine Photovoltaikanlage. Und das alles an der Nordstrasse im boomenden Quartier Zürich Wipkingen.
Das Problem: Erforderlich ist der Rückbau zweier Häuser aus dem 19. Jahrhundert. 14 Bewohner in insgesamt 7 Wohnungen sind betroffen. Dies sorgt für Aufsehen und Kritik in der Bevölkerung, weil damit das traditionsreiche Restaurant Tre Fratelli verschwindet.
Das «Tre Fratelli» ist eben nicht irgendein Lokal mit einem beliebigen Namen. Nein. Die «tre fratelli» gibt es wirklich. Das sind Lucas, Andreas und Nicolas Schwarz. Ihre Eltern nannten ihre 1975 eröffnete Beiz nach ihnen.
I. Die Eltern
Dass die drei Brüder nun am Tisch in der «Cantina Neri» in ihrem Neubau sitzen können, ist nicht selbstverständlich. Mussten sie doch einige Hürden überwinden, um ihr Mehrfamilienhaus zu bauen.
Es ist eine heitere Runde. Aus den älteren beiden Brüdern, Lucas und Andreas Schwarz, sprudelt es nur so heraus. Der jüngste, Nicolas Schwarz, mit Dreitagebart und Jeans, bremst den Erzählfluss manchmal diplomatisch. Der 54-jährige Jurist wohnt im Dachgeschoss des Hauses. Er unterstützt die Brüder in rechtlichen Fragen. Das findet Lucas Schwarz, der Erstgeborene, praktisch. Der Architekt hat das Haus entworfen. Er ist 61 Jahre alt, trägt Glatze und Brille. Andreas, 60, im gepflegten Jackett, ist der Gastgeber schlechthin. Er ist der Haupteigentümer des «Neri» und hat es stilvoll eingerichtet. Nun rückt er Kissen zurecht und serviert Espresso.
Ihre Familiengeschichte beginnt nicht etwa mit einer Einwanderung, wie man annehmen könnte. Sondern mit einer Auswanderung. Der Urgrossvater väterlicherseits stammte aus der Textilfamilie Moser in Herzogenbuchsee, doch wirtschaftlich bot ihm die dortige Textilindustrie kein Fortkommen. Er wanderte nach Sizilien aus, um mit Stoffen Geld zu verdienen. Die Grossmutter der «tre fratelli» wurde 1899 in Palermo geboren. 1929, zur Zeit der Wirtschaftskrise, kehrte die Familie verarmt in die Schweiz zurück.
Daher rührt die Italien-Sehnsucht der Familie Schwarz. Die Eltern der «tre fratelli», Liz und Fritz Schwarz, reisten regelmässig in den Süden. Dank ihrem Interesse für Bauten und Handwerk kannten sie bald italienische Design- und Architekturgrössen persönlich. Sie brachten die Ess- und Möbelkultur nach Zürich. Der alljährliche Besuch der Möbelmesse in Mailand war Pflicht. Ferien machten sie nur in Italien. Im Schlepptau ihrer Eltern mussten die drei Buben zig Kirchen besichtigen, wie sie erzählen.
Der Vater Fritz, ein Architekt, prägte die Stadt Zürich. Er baute das mittelalterliche Gebäude am Neumarkt 17 sukzessive zum kultigen Einrichtungsgeschäft aus. Es besteht aus drei verbundenen Altstadthäusern mit einem Erweiterungsbau, in dem begehbare Ausstellungsroste aufgehängt sind, die über einem Wasserbecken schweben. Heute gilt es als Sehenswürdigkeit, durch das verblüffte Touristen stolpern. Er errichtete die Freizeitzentren Buchegg und Heuried, die Eisbahn Oerlikon und gemeinsam mit dem Sohn Lucas im Jahr 2000 den Fifa-Hauptsitz auf dem Sonnenberg.
Die Mutter Liz stammte wie der Vater Fritz aus einer Textildynastie. Und zwar aus der Langenthaler Möbelstoff-Weberei Baumann. Sie war eine Ästhetin und studierte Textildesign. Für ihr Einrichtungsgeschäft Neumarkt 17, das heute Andreas Schwarz leitet, spürte sie Trends auf. Als Pionierin brachte sie internationale Möbelklassiker nach Zürich, aber auch Stoffe und Mode. Die NZZ nannte ihren Laden einst «Labyrinth des Schönen».
Diesen Sinn für das Schöne hat Liz Schwarz an ihre Söhne weitergegeben. Sei es die Beleuchtung, das Geländer, oder seien es die Türgriffe: Viele Ideen für den Neubau entstehen in Diskussionen. Konflikte hätten sie kaum, weil sie sich so gut ergänzten. Die drei Brüder sagen: «Wir sind eine Familie von Genussmenschen. Und wir sind Macher.»
Sie wollen Zürich mitgestalten. Dabei schrecken sie vor einschneidenden Veränderungen nicht zurück.
II. Ein legendäres Restaurant
Die «tre fratelli» brachen im Jahr 2021 nicht einfach zwei anonyme Häuser mit insgesamt sieben Wohnungen ab. Sie brachen damit auch das Restaurant ab, das ihre Eltern 1975 eröffnet hatten und das den Charakter Wipkingens prägte.
Liz Schwarz kreierte eine authentisch-italienische Speisekarte und stellte einen Koch ein, oft stand auch sie selber hinter dem Herd. Sie liess an den Wänden Spiegel leicht schräg aufhängen. Blickten Gäste in diese hinein, konnten sie diskret feststellen, wer aus der Kreativszene anwesend war. Der Garten war beliebt, man sass unter neun Platanen – diese geometrisch anzuordnen, war eine Idee von Fritz Schwarz. Bald war das «Tre Fratelli» das Stammlokal vieler Architekten und Künstler, unter ihnen der Maler Mario Comensoli.
Andreas Schwarz, der ausgebildeter Hotelier ist, sagt: «Obwohl branchenfremd, hatten unsere Eltern einen guten Riecher für eine Quartierbeiz. Sie wandelten eine ‹Chnelle› in einen In-Place um.»
Dies sei ohne grosse Eingriffe geschehen. Aus einem Marmorklotz habe der Vater ein Buffett gemacht. Und es gab eine Küche, in die man hineinsehen konnte. Andreas Schwarz fügt an: «Unsere Eltern machten das aus dem Bauch heraus. Heute wäre so etwas nicht mehr möglich. Es gibt zu viele Vorschriften.»
Über solche Vorschriften machen sich die Söhne heute lustig. So ist etwa die WC-Schrift auf der Glastür zu wenig gut sichtbar. Die Brüder sagen mit ironischem Unterton, das müsse man noch anpassen, so wolle es die Stadt.
Fritz und Liz Schwarz sind talentierte Gestalter, aber keine Geschäftsleute. Die Mietverträge im Fratelli-Haus sind ungenau. Fritz Schwarz renoviert nur das Nötigste, er lässt die Liegenschaft vergammeln.
Für die Söhne ist klar: Es braucht eine Erneuerung. Sie sinnieren mit dem Vater über ein Bauprojekt. 2015 kaufen die Brüder das benachbarte Baumeisterhaus. Die Idee wird konkret. Bei der ersten Baueingabe planen sie ein grosses Restaurant mit Garten. Doch die Lärmvorschriften machen ihnen einen Strich durch die Rechnung. Eine so grosszügige Aussenbeiz, wie sie ihre Eltern betrieben hatten, ist in heutigen Wohnzonen nicht mehr möglich. Dafür erlaubt es ihnen die Bau- und Zonenordnung von 2018, fünf Stockwerke hoch zu bauen statt vier.
Bei der zweiten Baueingabe sehen sie einen Gewerberaum statt eines Lokals vor. Doch sie fragen sich: «An wen vermieten wir das?» Also wagen sie eine letzte Baueingabe mit einem Restaurant in reduzierter Form, mit 50 Innen- und 18 Aussenplätzen – und prompt klappt es.
Die Nachbarn erheben Einsprache gegen das Baugesuch, weil der Ortsbildschutz zu kurz komme, die Belichtung ihrer Wohnungen und die Durchlüftung im Quartier verschlechtert werde. Der Fall kommt vor das Baurekursgericht. Das kostet die Brüder anderthalb Jahre. Der Stadtzürcher Heimatschutz bedauert derweil das Verschwinden des Gebäudes, verzichtet aber auf einen Rekurs. Der Erneuerung steht nichts mehr im Wege.
Die 14 Mieter in den alten Häusern werden jeweils über den aktuellsten Stand informiert. Die Brüder kündigen ihnen Ende März 2021 per Ende September. Die meisten wohnen bis zum Schluss dort und finden Anschlusslösungen.
Im Herbst 2021 brechen die «tre fratelli» das Haus mit dem «Tre Fratelli» sowie das Baumeisterhaus ab. Der Autor Köbi Gantenbein schreibt in der Architekturzeitschrift «Hochparterre»: «Ach, diese Sommer- und Herbstabende im Garten des ‹Tre Fratelli›! Unsere Kinder und Enkelinnen werden sie nicht erleben, denn in diesen Tagen machte der Bagger die schönste Gartenwirtschaft in Zürich kaputt.»
Hier scheint der ewige Konflikt zwischen Bewahren und Verdichten auf. Lucas Schwarz, Architekt des Neubaus, ist überzeugt, dass Letzteres an diesem Ort mehr Sinn ergibt: «Mich stört diese Abwertung. Der Erhalt der alten Bauten hätte sich nicht rentiert. Wir wollen etwas verbessern. Und wir wollen etwas für die Quartierbevölkerung tun.»
Bild links: Die besondere Lampe haben die Brüder gemeinsam ausgewählt. Bild rechts: Das Treppenhaus hat ein schmuckes Geländer und wird beim Treppensteigen immer heller, weil das Dach darüber aus Glas ist.
III. Der Neubau
2024 ist der Neubau vollendet. Das Haus mit dem Restaurant, das die Brüder in italianisierter Anspielung auf ihren Nachnamen «Neri» nennen, ist im Quartier angekommen. Natürlich wird italienisch gekocht. Das Lokal ist so gut besucht, dass die Gäste manchmal in den dazugehörenden Weinkeller ausweichen müssen.
Daneben und darüber wohnen 50 Leute. Die älteste Mieterin ist 84 Jahre alt, die jüngste ist ein Baby. Die Mieten, das war ein Ziel der Brüder, sollen «bezahlbar» sein. Die günstigste 4,5-Zimmer-Wohnung kostet 3500 Franken inklusive Nebenkosten, eine 1,5-Zimmer-Wohnung 1600 Franken, die teuerste Dach-Maisonnette 4330 Franken.
Auf die Wohnungen gibt es einen Ansturm. Ohne zu inserieren erhalten die Brüder 450 Bewerbungen. Sie wählen die Mieter selbst aus, um eine gute Durchmischung zu erzielen. Andreas Schwarz sagt: «Wir wollten keine Expats.» Lucas Schwarz führt aus, mit Expats assoziiere er «eine kurze Mietdauer und schlechte Integration». Die Brüder wollen langfristige Mieter, die in den Wohnungen bleiben und sich über Generationen ins Quartier integrieren.
Freunden von ihnen, die eine Zweitwohnung suchen, erteilen sie eine Absage. «Da waren wir dagegen. Dafür ist die Wohnungsnot einfach zu gross», sagt Andreas Schwarz. Und Lucas Schwarz fügt an, man habe bewusst drei Paare aus Wipkingen ausgewählt, die wegen Sanierungen ihre Wohnungen hätten verlassen müssen. Nicolas Schwarz hält fest: «Wir wollen keine Abzocker-Brüder sein, sondern im Quartier verankert sein.»
«Unsere Gläser soll man sehen», sagt Andreas Schwarz über das Geschirr im Neri.
Sowieso, bilanziert Lucas Schwarz, sei die «Nordstrasse» ein «braves Konzept». Der Vater hingegen habe mit seiner Architektur provoziert, er kannte Le Corbusier und gehörte zur Architektur-Avantgarde. Lucas Schwarz zeigt das Foto einer Sprengung: In der Oberländer Gemeinde Wald baute Fritz Schwarz 1963 ein Kiessilo in ein Wohnhaus um. Damals konnte man Beton noch nicht schneiden, also sprengte er diesen, um Fenster zu machen. «Dieses Bild symbolisiert die Radikalität unseres Vaters.»
Lucas Schwarz fügt an: «Wir sind eine sanftere Generation, wir sind braver. Wir wollten einen Neubau, der sich integriert.» Und doch leben die Eltern der «tre fratelli» in diesen Räumen weiter, das betonen die Söhne. Die Mutter mit ihrem Sinn für die Einrichtung. Sie starb 2019 im Alter von 80 Jahren, der Vater, der das Projekt begleitete, 2023, mit 93 Jahren.
Zur Eröffnung, veranstalten die «tre fratelli» drei Apéros. Einen für die Handwerker, einen für die Mieter und einen für die Anwohner. Alle sind guter Dinge. Von Skepsis und Schattenwurf ist keine Rede mehr. Lucas Schwarz bilanziert: «Das ist typisch für die Schweiz. Erst lästern alle, was man nur indirekt erfährt. Am Schluss findet es dann doch jeder gut.»