Gastronomen sollten in Zeiten des digitalen Zahlungsverkehrs ihren Umgang mit dem Trinkgeld hinterfragen.
Wenn es um das Trinkgeld geht, profitieren die Gastronomen in der Schweiz von einer Art Narrenfreiheit. Denn das Trinkgeld, das in Form von Münzen und Noten an die Angestellten fliesst, wird in der Regel nirgends deklariert. Es erscheint weder auf Belegen noch auf einem Lohnausweis, sondern wandert als Bargeld in die Taschen der Kellnerinnen und der Kellner. Und so wird Trinkgeld in den meisten Fällen zu Schwarzgeld.
Viele Jahrzehnte wurde dieser informelle Umgang geduldet, ja man darf sagen: gefördert. Von Arbeitnehmern, die dankbar für den Zustupf in bar waren, und von Behörden, die keine Abrechnungen sehen wollten.
Rechtlich betrachtet betrieben die Gastronomen damit Steuerhinterziehung. Denn das Gesetz sagt klar: Sobald Trinkgelder mehr als 10 Prozent des Bruttoeinkommens ausmachen, zählen sie zum Lohn. Dann werden sie steuer- und sozialversicherungspflichtig. Doch in Zeiten von Bargeld konnte niemand nachweisen, wann diese Grenze überschritten wurde.
Das ist heute anders. Das Bargeld verschwindet, an seine Stelle rücken Zahlungen mit der Karte. Auch Trinkgelder werden immer häufiger digital bezahlt. Das verändert die Situation grundlegend, plötzlich tauchen die Trinkgelder in der Buchhaltung der Restaurants und Cafés auf. «Was nun?», fragen sich die Gastronomen. Wegschauen, wie es lange üblich war, geht nicht mehr. Und so bleibt eigentlich nur eine Lösung: Die Betriebe müssen anfangen, Verantwortung für die Trinkgelder ihrer Angestellten zu übernehmen.
Trinkgeld geben folgt einer Norm
Man kann das anders sehen. Für Casimir Platzer, Präsident des Verbands Gastrosuisse, ist Trinkgeld ein Geschenk des Gastes, eine freiwillige Spende quasi, die über den eigentlichen Preis für eine Leistung hinausgeht. «Trinkgeld gehört nicht zum Lohn, denn es kommt in der Regel nicht vom Arbeitgeber», sagt er. Das ist insofern nachvollziehbar, als das Trinkgeld in der Schweiz seit dem Jahr 1974 im Preis enthalten sein muss. Was wir heute als Trinkgeld bezeichnen, ist der sogenannte «Overtip».
Doch auch der «Overtip» ist längst mehr als das Aufrunden auf den nächsten Frankenbetrag. Trinkgeld folgt heute einer sozialen Norm. Wer nach einem Besuch im Restaurant kein Trinkgeld gibt, gilt als geizig. Gleichzeitig fordern Cafés und sogar Take-aways immer häufiger direkt zum Trinkgeldgeben auf, etwa indem sie bei Kartengeräten festgelegte Prozentsätze hinterlegen. So fliessen in der Schweiz jedes Jahr mehr als eine Milliarde Franken Trinkgelder – und das alleine in der Gastronomie. Sie sind also längst ein normaler Bestandteil des Lohns und sollten als solcher versteuert werden.
Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer profitierten längerfristig davon: Erstens erhielten sie im Alter mehr Rente, zweitens wären sie im Krankheitsfall oder bei Arbeitslosigkeit besser versichert, und drittens hätten sie eine höhere Kreditwürdigkeit, was zum Beispiel bei der Wohnungssuche von Vorteil sein kann.
Höherer Grundlohn, mehr Zufriedenheit?
Einige Gastronomen sehen das anders. Sie befürchten, dass Angestellte in besser bezahlte Berufe abwandern, sollten sie das Trinkgeld nicht mehr einfach in ihre Taschen stecken dürfen. Doch das ist ein schwieriges Argument. Unversteuertes Geld sollte nicht als Grund dafür hinhalten müssen, dass eine Person eine Arbeitsstelle überhaupt erst antreten will. Damit schieben die Gastronomen die Verantwortung für einen anständigen Lohn von sich weg.
Man könnte es auch so sehen: Eine Deklaration der Trinkgelder würde den Grundlohn der Angestellten anheben. Den Betrieben entstünden zwar zusätzliche Kosten durch die Lohnbeiträge, aber das könnten sie in Kauf nehmen: als Zeichen der Wertschätzung einer Branche, die für ihre chronisch tiefen Saläre bekannt ist.
Gleichzeitig signalisierten die Gastronomen, dass sie sich der heutigen Zeit anpassen wollen. Denn so viel ist sicher: Die Digitalisierung schreitet voran. Immer mehr Menschen werden immer mehr Trinkgeld mit der Karte bezahlen. Beweise liefert die Buchhaltung.