Deutschland und die EU weichen die Haushaltsregeln auf. In der Schweiz wollen die Bürgerlichen dabei bleiben. Doch die Frage ist, für wie lange.
Will ein Staat seine Ausgaben erhöhen, hat er drei Wege zur Finanzierung: Sparen an anderen Orten, höhere Steuern oder höhere Schulden. Die ersten zwei Varianten sind unpopulär, die dritte Variante ist die bequemste.
Mit höheren Schulden verschiebt man höhere Steuern oder Sparübungen auf übermorgen. Wenn das Übermorgen kommt, sind die heutigen Politiker nicht mehr im Amt. Und die Lasten tragen die Folgegenerationen, die heute noch wenig zu sagen haben. So läuft Politik.
In manchen Ländern ist das Übermorgen eigentlich schon da. Zum Beispiel in Frankreich, das chronisch Defizite produziert, sich aber aus der Schuldenspirale nicht befreien kann. Deutschland steht finanziell besser da. Ein wesentlicher Faktor war die Schuldenbremse, die auf Bundesebene Jahresdefizite von höchstens 0,35 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandprodukt, BIP) zulässt.
Doch die künftige deutsche Regierungskoalition wird die Schuldenbremse in ihrer bisherigen Form nicht beibehalten. Das ist diese Woche deutlich geworden. Gewisse Ausgaben für Verteidigung und Infrastrukturen sollen an der Schuldenbremse vorbeigeschleust werden. Zudem ist eine generelle Lockerung der Regeln geplant. In der EU bahnt sich derweil eine weitere Aufweichung der Haushaltsregeln für die Mitgliedstaaten ab.
Mehr Schulden, höhere Zinsen
Die ausländischen Debatten können auch die Schweizer Diskussionen beeinflussen. Die Schweiz kennt auf Bundesebene seit 2003 eine Schuldenbremse. Auch die meisten Kantone haben Haushaltsregeln.
Die Schweizer Regeln auf Stufe Bund sind strenger als die bisherige deutsche Schuldenbremse, denn sie erlauben im Prinzip über einen Konjunkturzyklus hinweg im Durchschnitt keine Defizite. Die Schweiz könnte sich eine Lockerung der Regeln weit eher «leisten» als andere Länder. Denn im internationalen Vergleich ist die Staatsverschuldung in der Schweiz gemessen an der Grösse der Volkswirtschaft tief. In Deutschland betragen die Schulden etwa das 2,5-Fache, im Durchschnitt des Euro-Raums mehr als das Dreifache und in Frankreich rund das Vierfache (vgl. Grafik).
Der Abgleich mit den Zinsen zeigt eine klare Tendenz: Je höher ein Staat verschuldet ist, desto höhere Schuldzinsen muss er zahlen. Die Rendite von zehnjährigen Staatsanleihen Frankreichs lag zum Beispiel am Donnerstag mit rund 3,6 Prozent fast drei Prozentpunkte über der Rendite von Schweizer Bundesobligationen. Angesichts der ausstehenden Bundesobligationen von etwa 70 Milliarden Franken brächte eine Zinserhöhung um drei Prozentpunkte Zusatzkosten für den Bund von über 2 Milliarden Franken pro Jahr.
Doch auch in der Schweiz kommen immer wieder Diskussionen über die Lockerung der Schuldenbremse auf. Die Linke war einst schon gegen deren Einführung. Einer der jüngsten Vorstösse zur Aushebelung der Schuldenbremse ist die Volksinitiative der Linksparteien für einen Klimafonds: Diese Initiative will bis 2050 total etwa 100 bis 200 Milliarden zusätzliche Klimasubventionen von den Regeln der Schuldenbremse ausnehmen. Ein parlamentarischer Vorstoss der SP von 2024 fordert derweil, dass Bundesdefizite künftig zulässig sein sollen, solange die Schuldenquote in Prozent des BIP nicht wächst.
Auch bei einigen Bürgerlichen ist die Lockerung kein Tabuthema mehr. 2023 verlangte der Berner SVP-Ständerat Werner Salzmann in einer Motion, dass die geplante Erhöhung der Armeeausgaben als ausserordentlich eingestuft werde. Damit liessen sich diese Zusatzausgaben an den ordentlichen Regeln der Schuldenbremse vorbeischleusen. Salzmann zog seinen Vorstoss wieder zurück nach der Zusicherung des Bundesrats, innerhalb der ordentlichen Regeln die gewünschte Erhöhung des Armeebudgets auf 1 Prozent des BIP zu erreichen.
Das Zünglein an der Waage
Im Parlament dürfte bei der Schuldenbremse wie bei vielen anderen Themen vor allem die Mitte-Partei das Zünglein an der Waage spielen. Laut befragten Parteiexponenten ist das Bewahren der geltenden Regeln bei den Mitte-Parlamentariern wohl immer noch mehrheitsfähig, doch es gebe auch Ansätze zur Aufweichung.
Eine Illustration davon lieferte der Berner Mitte-Nationalrat Reto Nause im vergangenen Jahr mit einer Interpellation an den Bundesrat. Eine der gestellten Fragen: «Warum gewichtet der Bundesrat die Schuldenbremse höher als andere verfassungsmässige Aufgaben wie die Landesverteidigung oder den Schutz der Bevölkerung?» Mit der Logik hinter dieser Frage müsste man für jede in der Verfassung verankerte Aufgabe Zusatzschulden zulassen und die Schuldenbremse gleich ganz vergessen.
Eine zentrale Rolle dürften die Mitte-Ständeräte spielen. Deren Finanzpolitiker äusserten am Donnerstag Glaubensbekenntnisse zur geltenden Schuldenbremse. Der Zuger Mitte-Ständerat Peter Hegglin sagte es wie folgt: Falls man zusätzliche Ausgaben etwa für die Armee als nötig erachte und nicht an anderen Orten sparen wolle, sei den Bürgern eine Steuererhöhung vorzuschlagen. Die Schmerzgrenze für eine Volksabstimmung ortet Hegglin bei einer Erhöhung der Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt.
Der Walliser Mitte-Ständerat Beat Rieder will ebenfalls an der geltenden Schuldenbremse festhalten. Er ortet noch genügend Spielraum zur Finanzierung höherer Armeeausgaben ohne Steuererhöhung. Vor die Wahl zwischen höheren Steuern oder höheren Schulden gestellt, sagt Rieder klar, dass er höhere Steuern bevorzugen würde.
Zu den Mitte-Finanzpolitikern im Ständerat gehört auch der St. Galler Vertreter Benedikt Würth. Er hat 2024 in einer Motion eine Erhöhung der Mehrwertsteuer gefordert – um 0,6 Prozentpunkte für die AHV und um 0,4 Prozentpunkte für die Armee. Dies während fünf Jahren – doch wer an diese zeitliche Begrenzung glaubt, möge einen Franken zahlen. Dieser Vorstoss steckt zurzeit in der Finanzkommission des Ständerats. Sie will erst darüber diskutieren, wenn Konkreteres zum Entlastungspaket für den Bundeshaushalt und zur Finanzierung der 13. AHV-Rente vorliege, also laut der Kommission voraussichtlich im Januar 2026.
Die Schuldenbremse hat den Bund nicht verhungern lassen. Dessen Ausgaben sind seit 2002 etwa gleich stark gewachsen wie die Volkswirtschaft. Doch bei den Schulden gab es eine Trendwende. Von 1990 bis 2002 waren die Bruttoschulden des Bundes von knapp 40 bis auf über 120 Milliarden Franken gestiegen, seit Einführung der Schuldenbremse sanken sie bis 2019 auf knapp 100 Milliarden Franken. Die Sonderausgaben wegen der Pandemie ab 2020 erhöhten die Bruttoschulden wieder auf etwa 120 Milliarden Franken. Dies zeigte auch die Flexibilität der Regeln, die in einer solchen Sondersituation Defizite zuliessen.