Die DFB-Auswahl schenkt im Viertelfinal der Nations League ein 3:0 her, zieht aber dennoch in die Runde der letzten vier Teams ein. Der Bundestrainer Nagelsmann ist auf einer Mission.
Manche Ereignisse im Fussball machen sprachlos. Und manchmal geht es gar nicht einmal um das Ergebnis, sondern um die Art und Weise, wie es zustande gekommen ist. So wie das 3:3 der deutschen Nationalmannschaft am Sonntagabend in Dortmund gegen Italien in der Nations League. Wer nur das Resultat betrachtete, der konnte sich denken: ein turbulentes Spiel, zwei Mannschaften, die sich wenig schenkten. Wer sich die Partie aber genauer anschaute, der sah eine hochinteressante Darbietung, deren erster und zweiter Teil sich partout nicht miteinander vertrugen.
2012 verspielte Deutschland einmal eine Vier-Tore-Führung
Der erste Teil: die vollkommene Dominanz des deutschen Nationalteams, das seine beste Halbzeit seit mehr als einem Jahrzehnt absolviert hat, mit Toren von Joshua Kimmich, Jamal Musiala und Tim Kleindienst. Erdrückend, mit Spielwitz, zielstrebig und effektiv: So führte die DFB-Auswahl Italien vor.
Die zweite Hälfte: das allmähliche Entgleiten jeder Kontrolle, das Schwinden der Selbstsicherheit, das langsame Anwachsen von Unsicherheit, die sich in der Nachspielzeit gar zu einer sanften Panik auswuchs. Mittels Penalty trafen die Italiener noch zum Ausgleich. Dass sich die Deutschen trotz alledem nach dem 2:1 in Mailand für die Runde der letzten vier Teams in der Nations League qualifizierten, verkam angesichts der Rasanz der Ereignisse zur Nebensache.
Ältere Fussballfreunde werden sich vielleicht noch daran erinnern: Vor zwölfeinhalb Jahren gab es ein ähnliches Spiel, 2012, im Berliner Olympiastadion. Da traten die Deutschen gegen die Schweden in der WM-Qualifikation an, sie führten zur Halbzeit 4:0, spielten zauberhaften Fussball, doch am Ende verliefen die Dinge so wie in Dortmund. 4:4 lautete das Resultat damals – ein bis heute singuläres Ereignis in der deutschen Fussballgeschichte.
Aus solchen Spielen lässt sich lernen. Dies zu verkünden, war dann auch die Botschaft des deutschen Nationaltrainers Julian Nagelsmann, der sich 45 Minuten lang an einem «unglaublich ansehnlichen Fussball» erfreut hatte. Die erste Hälfte sei das Beste, was seine Mannschaft gespielt habe, und damit bezog er sich wohl auf seine noch nicht allzu lange Zeit als deutscher Nationalcoach.
Allzu lange ärgern wollte sich Nagelsmann über das Entgleiten jeglicher Kontrolle aber nicht, jedenfalls nicht öffentlich. Das Spiel biete ihm interessante Erkenntnisse – und sei für die Entwicklung der Mannschaft hilfreicher als ein klarer Sieg.
Wer Nagelsmann in diesen Augenblicken hörte, seiner Analyse folgte, der konnte ihm durchaus zustimmen: Beim ersten Tor der Italiener habe die Mannschaft kurzzeitig ihre Struktur verloren, und in einem solchen Augenblick sei ein Fehlpass viel gefährlicher, als wenn das Positionsspiel funktioniere. Das sind keine Details, grundsätzliche Dinge.
Ebenso wie der Umstand, dass es einer Mannschaft, die neu zusammengesetzt wird, schwerer fällt, sich in einem solchen Augenblick zu finden. Im Kern aber wollte Nagelsmann sich nicht beirren lassen: Denn zu den Einsichten zähle auch, dass seine Mannschaft hinreissenden Fussball spielen könne, und, wie im Hinspiel, gegen einen starken Gegner wie Italien «auch nach einem Rückstand zurückkommen» könne.
Nagelsmann will keine Rücksicht nehmen
Grundlos ist die Zuversicht des Bundestrainers nicht. Er kann sich notfalls auf historische Vorbilder berufen. 2012, als die Deutschen im Herbst einen Vier-Tore-Vorsprung gegen die Schweden hergaben, markierte dies eine Wende: Die zuvor teils blasiert wirkenden Deutschen agierten fortan konzentrierter, auch unerbittlicher. 2014 wurden sie Weltmeister.
Das gleiche Ziel verfolgt Julian Nagelsmann. Und er hat bereits erklärt, dass die Nations League für ihn kein Verlegenheitstermin ist. Er folgt dem Beispiel der Spanier, die sich über den Sieg in diesem Wettbewerb für ihren EM-Titel im vergangenen Sommer präparierten.
Wie ernst er den Final Four Anfang Juni nimmt, gab Nagelsmann ebenfalls zu erkennen. Als er auf die Klub-Weltmeisterschaft im Sommer angesprochen wurde, sagte er bloss, dass er darauf keine Rücksicht nehmen könne bei seiner Nominierung. Und das wüssten auch die Klubs. Keine Frage: Dieser Mann hat eine Mission.