Die Skipisten sind voll – mit Schweizer Familien und wohlsituierten ausländischen Touristen. Secondos fehlen. Aus ökonomischer Sicht sind sie ein nicht zustande gekommenes Geschäft. Einer der Ersten, die dies erkannt haben, war der damalige Aroser Tourismusdirektor Pascal Jenny.
Slaven Dujakovic. So heisst ein ehemals hoffnungsvolles Talent des Österreichischen Skiverbandes. Längst hat der Salzburger seine Latten an den Nagel gehängt, und doch bleibt er in Erinnerung: nicht wegen seiner Leistungen, den grossen Durchbruch hat er nie geschafft. Sondern schlicht, weil er einen «anderen» Namen trägt.
Für die Skination Schweiz gilt dies im Besonderen. Inzwischen haben fast 60 Prozent der Kinder hierzulande einen Migrationshintergrund. Im Jahr 2019 lebten 56 Prozent der 7- bis 15-Jährigen in einem Haushalt mit mindestens einem Elternteil, der im Ausland geboren wurde oder eine ausländische Nationalität hat.
Im Alpin-Kader (Nationalmannschaft bis C-Kader) des Schweizer Skiverbandes Swiss Ski findet sich davon, sofern man dem Namen nach beurteilt, freilich nichts. Die 108 Spitzensportler heissen Mächler, Abplanalp, Roulin oder natürlich Odermatt. Ein -ic als Endung sucht man vergeblich, auch ein türkischer, portugiesischer oder spanischer Einschlag fehlt. Ein einziger Name klingt nicht typisch (schweizer-)deutsch, französisch oder italienisch – Jack Spencer.
Gary Furrer, der 13 Jahre lang als Chef Breitensport bei Swiss Ski gewirkt hat und kürzlich in Rente gegangen ist, sagt: «Es war immer meine Hoffnung, dass man unter den Elitefahrern einen ausländisch klingenden Namen findet, wenn ich gehe. Leider hat sie sich nicht erfüllt.»
Die Alpen, das Reduit der «urtümlichen» Schweiz
Der Befund beschränkt sich allerdings nicht auf die Spitzenathleten. Die Bergbahnen erfassen naturgemäss keine Zahlen über einen allfälligen Migrationshintergrund ihrer Klientel, ja nur schon über die Definition von Secondos oder Terzos lässt es sich streiten. Der Name sagt zudem nicht zwingend etwas über die Herkunft der Eltern aus.
Dennoch bestätigt sich in jeder Skihütte, an jedem Skilift der Eindruck, den man mit Blick auf die Namenliste der Nationalmannschaften hat. Auf die Piste gehen grossmehrheitlich Vertreter der «urtümlichen» Schweiz. Es kommt einem vor, als sei zumindest in dieser Hinsicht die Schweiz in den 1950er Jahren steckengeblieben.
Der Skisport, dieses Schweizer Heiligtum, ist damit kein Abbild eines Landes, in dem gemäss Bundesamt für Statistik rund 40 Prozent der Bevölkerung einen Migrationshintergrund haben. Wer auf der Piste unterwegs ist, erhält den Eindruck, die beinahe einzigen Zuwanderer auf der Piste seien Expats aus nordischen Ländern.
Bei anderen Sportarten, allen voran dem fast völlig globalisierten Fussball, sieht das Bild komplett anders aus. Dass die Nationalmannschaft an die grossen Turniere fährt, ist in den letzten Jahrzehnten zur Selbstverständlichkeit geworden. Ohne das Zutun zahlreicher Secondos wäre dieser Erfolg undenkbar gewesen.
Kubilay Türkyilmaz, Granit Xhaka und Breel Embolo zeigen auf dem Platz, dass die Schweiz ohne Zugewanderte schlicht nicht mehr vorstellbar ist. Dank den Chancen des sozialen Aufstiegs und der in ihren Herkunftsländern oftmals unbändigen Fussballleidenschaft sind die Kinder von Zugewanderten – verglichen mit ihrem sonstigen Anteil an der Bevölkerung – an der Spitze gar übervertreten.
Von Zeit zu Zeit flammen dabei die Diskussionen über die «echten» und die «Papierlischwizer» auf. Doch insgesamt gilt die Fussballnationalmannschaft als Beweis für die vergleichsweise gelungene Integration der Zugewanderten. Man ist stolz auf die Erfolge der Nati und freut sich über ein Tor von Zeki Amdouni genauso wie über eines von Silvan Widmer.
Fussballstars im Schnee
Warum bringt man nicht Fussballer in den Schnee und macht dafür gezielt Werbung in der Balkan-Community?, dachte sich Pascal Jenny. Denn aus ökonomischer Sicht sind die fehlenden Secondos ein nicht zustande gekommenes Geschäft. Als damaliger Aroser Tourismusdirektor lud Jenny 2014 Xherdan Shaqiri mitsamt Brüdern ein und machte mit ihm eine Wette: Gefällt es dem Fussballstar im Schnee, wird er für drei Jahre zum Markenbotschafter für die Bündner Destination. Ist er enttäuscht, zahlt ihm Jenny eine Woche Strandferien.
Natürlich gefiel es den Shaqiris im Schnee. Xherdan durfte aus vertraglichen Gründen zwar nicht auf die Ski, aber die Fotos von ihm auf dem Schlitten, mit den Schneeschuhen und beim Fondueplausch machten die Runde. Auf Facebook schrieb der Influencer: «Könnt ihr euch vorstellen, dass ich das Fussballspielen gegen den Schneesport eingetauscht habe? Ich hätte selbst nicht gedacht, dass mir das Spass macht.»
Shaqiri vergnügt sich zwar immer noch regelmässig im Schnee von Arosa, aber der Botschafter-Vertrag ist längst ausgelaufen. Hat sich die Investition für die Destination gelohnt? «In unserer Beherbergungs-Statistik, bei der die Herkunftsstaaten ab einem Anteil von zwei Prozent aufgeführt werden, tauchen die Balkanländer nicht auf», sagt Jenny, der mittlerweile Präsident von Arosa Tourismus ist.
Eingebürgerte Secondos würden allerdings ohnehin nicht in dieser Statistik figurieren, zudem sagt Jenny, dass es gemäss seiner Wahrnehmung «nunmehr schon ein paar Gäste mehr» mit Wurzeln im Balkan gebe. Bei Veranstaltungen von Swissalbs, der schweizerisch-albanischen Community, sei man zudem gezielt mit Marketing-Ständen anwesend.
Fehlende Tradition
Doch warum zeigt sich trotz solchen Aktionen beim Skifahren (und ein paar anderen traditionellen Schweizer Sportarten) die Vielfalt des Landes so gar nicht? Edgar Grämiger von der Beratungsfirma Grischconsulta hat sich 2016 im Auftrag von Seilbahnen, drei Bergkantonen und dem Staatssekretariat für Wirtschaft mit der Frage befasst. Einige der Antworten, die er gefunden hat, liegen auf der Hand.
So wird das Skifahren in der Regel im Kindesalter erlernt – später bringt man es kaum mehr auf einen grünen Zweig. Wenn jedoch die Eltern nicht fahren können, fehlt eine wichtige Triebfeder. Zwar wedeln längst auch nicht alle «urtümlichen» Schweizer den Hang hinunter, aber es sind doch viel mehr. Stehen dann schon Ski zu Hause herum, sinken die Eintrittshürden.
Gemäss einer Studie von 2008 über das Sportverhalten der Migrationsbevölkerung fährt in der Schweiz jeder vierte Mann aus Nord- und Westeuropa Ski, aber nur jeder vierzigste aus dem Balkan, der Türkei oder Osteuropa. Diese Ländergruppen stellen einen bedeutsamen Teil der Zugewanderten. In keiner Sportart sind bezüglich Fertigkeit die Unterschiede zwischen der Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund so gross wie beim Skifahren.
Hinzu kommen finanzielle Faktoren: Schneesport ist ein teurer Spass – und sämtliche Erhebungen zeigen, dass Migranten über ein signifikant tieferes Einkommen und Vermögen verfügen. Zudem wird dieses mit mehr Personen geteilt. Wer aufpassen muss, am Ende des Monats über die Runden zu kommen, dürfte sich nur in seltenen Fällen einen Skitag leisten, der pro Person locker über hundert Franken kostet. Die talentierte Tochter zu allen möglichen Nachwuchsrennen zu begleiten – was jährlich schnell einen fünfstelligen Betrag verschlingt –, liegt dann erst recht nicht drin.
Die migrantische Schweiz wohnt mehrheitlich im urbanen Gebiet und seltener im Bergdorf, wo man nur umfallen muss, um auf die nächste Skipiste zu kommen. Nicht zuletzt gibt es immer weniger schneesichere Gebiete, und die Freizeitalternativen sind deutlich zahlreicher als noch vor ein paar Jahrzehnten – was freilich für alle Bevölkerungsschichten gilt. Die Skiwoche konkurriert heute mit Disneyland, dem Unihockey-Camp oder den Tauchferien in Hurghada.
Individualistische Schweizer
Für die Affinität zum Schneesport überraschender sind kulturelle Aspekte. Der niederländische Sozialpsychologe Geert Hofstede hat in seiner Arbeit sechs sogenannte Kulturdimensionen etabliert – etwa den Index zur Machtdistanz, zum Individualismus oder zum Genuss.
Dabei zeigt sich, dass der Individualismus in der Schweiz (und in anderen westeuropäischen Kulturen) deutlich ausgeprägter ist als etwa im Balkan oder in der Türkei. Personen aus letzteren Ländern suchen eher das Erlebnis innerhalb der Gruppe oder der Familie als die Ein- oder Zweisamkeit auf der Skipiste oder am Bügellift. Beim Sport zeigt sich dies exemplarisch: Trotz ihrer überschaubaren Grösse gehören Balkanländer im Fussball, Basketball, Handball oder Wasserball teilweise zur Weltspitze – es sind dies allesamt Mannschaftssportarten.
Auch beim Genuss-Index – bei dem unter anderem gemessen wird, wie genussorientiert die Freizeitgestaltung ist – schwingen die Schweizer obenauf. Eine Schweizer Familie empfindet es als grosses Glück, einen Tag in den Bergen verbringen zu können. Den zugewanderten Nachbarn sagt diese Art des Zeitvertreibs mutmasslich weniger zu. Langlebige Prestigeobjekte, beispielsweise ein schönes Auto, geniessen oftmals einen höheren Stellenwert.
«Ein türkischer Bekannter erzählte mir, dass es ihm nicht in den Sinn kommen würde, Geld für etwas auszugeben, das einem danach nicht bleibt», sagt Grämiger.
Auch die Lehrer können nicht mehr Ski fahren
Will man die grosse Masse der Bevölkerung mit Migrationshintergrund erreichen, genügen solche Einzelanlässe naturgemäss nicht. Erfolgversprechender ist der Zugang über die Volksschulen. Einst war in fast jeder Gemeinde ein Skitag pro Winter selbstverständlich. Als die Lehrerinnen und Lehrer selbst immer weniger mit den beiden Latten umzugehen wussten, wurde daraus der «Schneetag». Fortan konnten die Kinder auch auf den Schlitten oder in die Schlittschuhe steigen.
Aufgrund der logistischen (und finanziellen) Komplexität sind allerdings auch solche Tage gerade in den urbanen Gebieten längst keine Selbstverständlichkeit mehr. Projekte wie die von Swiss Ski und den Seilbahnen Schweiz ins Leben gerufenen «Sunrise Snow Days» wollen dem entgegenwirken. 8000 Kinder werden damit zu stark vergünstigten Konditionen auf die Piste gebracht.
«Mehr als die Hälfte von ihnen steht zum ersten Mal überhaupt auf Ski oder einem Snowboard. Noch nie ist mir zu Ohren gekommen, dass es jemandem nicht gefallen hat», sagt der langjährige Breitensport-Chef Furrer.
In eine ähnliche Richtung zielt die Schneesportinitiative Schweiz, die Schulen und Lehrpersonen fixfertig organisierte Ski- und Snowboardlager anbietet. Ziel ist, dass so viele Kinder wie möglich zumindest einmal den Weg in die Berge finden. Der Geschäftsführer Ole Rauch plädiert dafür, dass der Schneesport gar in den Lehrplänen verankert wird, ähnlich wie das Schwimmen. «Wenn man sich nicht über Wasser halten kann, sind die Konsequenzen natürlich dramatischer, als wenn man nicht Ski fährt. Und doch handelt es sich um ein Schweizer Kulturgut sondergleichen», sagt er.
Gehässiges Karriereende
Noch haben die verschiedenen Initiativen nicht dazu geführt, dass es Zuwanderer in einem Schneesport an die Spitze schaffen. Den Schweizer Slaven Dujakovic gibt es nicht. Gleichzeitig ist das vielleicht gar ein Glück.
Denn nachdem der Mann mit bosnisch-serbischen Wurzeln im Alter von lediglich 24 Jahren seine Skikarriere an den Nagel gehängt hatte, packte er den verbalen Zweihänder aus: «Der Österreichische Skiverband hatte mir nie das Gefühl gegeben, dass sie mich im Skisport brauchen! (. . .) Mein Wunsch für die Zukunft ist, dass auch Menschen mit Migrationshintergrund gleich behandelt werden wie alle anderen! Die sportlichen Leistungen sollen beurteilt werden und nicht der Nachname oder Ursprung», schrieb er auf Facebook.
Der Österreichische Skiverband reagierte umgehend. «Wir bedauern sehr, dass bei Slaven Dujakovic offensichtlich der Eindruck entstand, nicht in der ÖSV-Familie willkommen zu sein», schrieb er. Dem sei nie so gewesen. Dennoch werde man sich um «ein klärendes Gespräch bemühen».