Der amerikanische Präsident fordert mit seiner Logik des Egoismus die politische Vernunft heraus. Verliert die Politik darüber nicht gleich die Nerven, kann sie daran wachsen – und mit ihr die Gesellschaft.
Politik ist wie Schach spielen, nur dass hier über allen anderen Regeln diese steht: Es darf keine Figur geschlagen werden. Das sieht dann aus wie ein Eiertanz und ist im Ergebnis meist ein Nullsummenspiel. Neuerdings wird in der Politik zwar noch immer Schach gespielt, jedoch ohne Regeln. Alles ist erlaubt. Grossmeister in dieser Disziplin sind Putin und Trump. Sympathischer als die russische Variante ist fürs Erste noch die amerikanische.
Putins brachiale Methode geht so: Er marschiert in der Ukraine unter dem Vorwand ein, die ukrainischen Nazis, Faschisten und Antisemiten zu bekämpfen. Er findet, der Westen könnte ihm dankbar sein für diese heroische Tat. Alice Weidel hat das argumentative Verfahren der Umkehrung aller Werte in ihrem famosen Gespräch mit Elon Musk für eigene Zwecke weiterentwickelt. Hitler sei in Wahrheit ein Sozialist gewesen, dekretierte sie, die AfD könne allein darum nicht in der Nachfolge der NSDAP stehen.
Die Unverfrorenheit solcher Geschichtsfälschung versucht noch nicht einmal, der Behauptung einen Anschein von Plausibilität zu geben. Sie vertraut darauf, dass die eigene Gefolgschaft die Camouflage erkennt und alle anderen reflexartig Zeter und Mordio schreien.
Das Chaos um jeden Preis maximieren
Trump ist schlauer. Auch er spielt Schach ohne Regeln. Doch er verbindet es mit einem weiteren Verstoss gegen die ungeschriebenen Sittengesetze der Politik. Bestand deren Ziel in den Jahrzehnten der relativ friedlichen politischen Ordnung darin, das allgemeine Chaos mit Regeln zu bändigen, so folgt Trump eisern dem Grundsatz der Chaosmaximierung. Als Chefdenker seiner Chaostheorie ist er den anderen immer einen Schritt voraus. Wo die Überrumpelten noch darum ringen, wie auf Trumps letzte Eskapaden zu reagieren sei, lässt er schon die nächste Salve auf die schöne alte Ordnung los.
Meistens reichen dazu dreiste Ankündigungen: Grönland wird übernommen, notfalls mit militärischer Gewalt. Kanada möge sich als 51. Gliedstaat den USA anschliessen. Der Panamakanal soll zurückgeholt und unter amerikanische Kontrolle genommen werden. Und dann, noch ehe die Aufregung verebbt, der nächste Schlag: Gaza wird dereinst die neue Riviera im Nahen Osten sein. Vor Wochenfrist hat Trump nachgelegt: «Ich bin entschlossen, Gaza zu kaufen und in Besitz zu nehmen», bekräftigte er vor Reportern.
Fast geht dabei unter, dass Trump und seine Getreuen derweil Regierungsagenturen schliessen, Tausende von staatlichen Angestellten nach Hause schicken und ihnen die Kündigung nahelegen. Kein Tag vergeht ohne Androhung von Strafzöllen, die dann wieder ebenso handstreichartig zurückgenommen werden. Es herrscht maximale Verwirrung. Und niemand weiss, was als Nächstes folgt.
Nach Jahrzehnten des mit Regelwerken abgesicherten Freihandels, nach einer langen Periode des weitgehend rationalen Umgangs zwischen den Staaten scheinen wir gerade in ein irrationales Zeitalter eingetreten zu sein. Nichts gilt mehr, Verträge werden gekündigt oder gebrochen, und Staatsgrenzen sind veränderbar, sei es mit Geld oder unter Androhung von militärischer Gewalt.
Denkverbote werden umgestossen
Was auf den ersten Blick irrational oder widersinnig erscheint, weil es alle geltenden Verhaltensnormen und Denktraditionen verhöhnt, folgt allerdings einem klaren Kalkül und ist darum durchaus rational. Dessen oberste Maxime lautet, höchste Verwirrung zu stiften, das Unaussprechliche auszusprechen, Denkverbote umzustossen. Schliesslich: Drohungen werden zu legitimen Mitteln im Wettstreit der Nationen erklärt.
Trump ist ein Meister darin, das zu sagen, was manche denken, aber sich nicht öffentlich zu formulieren getrauen. Er führt sich auf wie ein Trampel, wenn er sagt, er sei «entschlossen, Gaza zu kaufen». Alle werden wieder Zeter und Mordio schreien, weil sie doch zu wissen glauben: So undiplomatisch kann internationale Politik nicht vorgehen. Das kümmert den Trampel nicht, er kennt bloss Verachtung für Diplomatie, und er denkt Politik, wie noch kaum einer sie zu denken wagte.
Natürlich weiss auch Trump, dass er Gaza nicht kaufen wird. Er braucht es auch gar nicht, es genügt zu sagen, er werde es tun. Und schon setzt er damit eine riesige Diskussion in Gang über den Unsinn eines solchen Vorhabens. Und unversehens debattiert die halbe Welt – endlich – darüber, was mit Gaza geschehen soll. Das ist die Dynamik irrationaler Ideen.
Man hüte sich davor, Trump zum Irren zu erklären. Wenn er einer Theorie folgt, dann gewiss nicht der Madman-Theorie. Nixon hatte sie entwickelt in der Meinung, man brauche der Welt nur vorzuspielen, man sei verrückt geworden und sei zu allem fähig, um maximale Angst zu verbreiten.
«Though this be madness, yet there is method in’t», heisst es in Shakespeares «Hamlet». In seiner Methode erweist sich Trump als intuitiver Schüler der Rational Choice Theory: Sie erklärt den Egoismus der Individuen zu jener Handlungsmaxime, die am Ende dem Kollektiv den grössten Gewinn verspricht. Das wiederum hört sich um einiges unsympathischer an als der moralisch unterfütterte Altruismus mancher Europäer. Immerhin aber spielt der Egoismus nichts vor, Trump ist in seiner America-First-Attitüde schamlos ehrlich.
Daraus erschliesst sich seine Ukraine-Politik: Er will mit Russland wieder ins Geschäft kommen und es daran hindern, sich auch noch die ukrainischen Bodenschätze einzuverleiben. Den Ukrainern wiederum will er genau diese abkaufen als Gegenleistung für eine Militärhilfe, die ausreichend sein könnte, die Russen auf Distanz zu halten. Das ist ein knallhartes Kalkül zur Wahrung der Eigeninteressen.
Trump braucht die Empörung
Zu lange schon verklärt der Westen Habermas’ Diskursethik als Heilmittel im Konfliktfall. Dieses Yoga der Intellektuellen taugt nur dort, wo sich ohnehin schon alle einig sind, denn sie setzt jenes Einverständnis voraus, das sie erst zu erzielen vorgibt. Trumps Brachialethik geht einen anderen Weg: Sie provoziert den maximalen Dissens, um die Betriebstemperatur der Debatten zu erhöhen.
Das Undenkbare nicht nur zu denken, sondern auch auszusprechen, stellt in unseren Zeiten der höchsten Empfindsamkeit und der masslosen Erregungsbereitschaft eine ungeheure Provokation dar. Trump rechnet damit. Er braucht die Empörung, die seinen Ankündigungen folgt, sie ist Teil seines Kalküls. Er muss dann nur noch zuschauen, wie der Stein, den er mutwillig ins Wasser geworfen hat, seine Kreise zieht. Provokationen fordern immer heraus, man muss sich zu ihnen verhalten.
Bisher haben Trumps Ankündigungs-Kaskaden vergleichsweise wenig Empörung ausgelöst. Ist die Welt gelassener geworden? Kann sein. Eher ist sie einfach in eine Art Schockstarre verfallen. Nur allmählich formiert sich Widerstand gegen die Zumutungen des vermeintlich Irrationalen. Dabei lassen sich unterschiedliche Muster erkennen.
Vernunft – mehr denn je
Die mexikanische Präsidentin Claudia Sheinbaum nannte ihre Methode «Gelassenheit und Geduld». Fürs Erste scheint sie damit Erfolg zu haben, die Erhebung von Strafzöllen ist aufgeschoben. Sie hatte schon früh angekündigt, sie werde sich nicht einschüchtern lassen, und nach dieser Maxime handelte sie: besonnen und abgeklärt.
Der amerikanische Historiker Timothy Snyder hat die hysterische Methode gewählt. «Natürlich ist es ein Putsch», so betitelte er vorige Woche seinen Blog-Eintrag. Darunter: «Ignoriere das Offensichtliche, und du verlierst deine Republik.» In seinem Beitrag erklärt er, dass heutzutage nicht mehr mit Soldaten geputscht würde, sondern mit der Unterwanderung der digitalen staatlichen Infrastruktur, wie Elon Musk es gerade in Washington vorführe. Ein Staatsstreich sei im Gange, schreibt Snyder, und mit jeder Stunde, die man verstreichen lasse, nehme die Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen Putsches zu.
Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron sucht derweil Zuflucht beim Pathos. Am Digital-Gipfel jüngst in Paris kündigte er wortreich eine Hundert-Milliarden-Investition an, mit der Frankreich die Entwicklung einer europäischen KI voranbringen solle. Das Ganze schmückte er mit rhetorischen Girlanden und wies stolz darauf hin, der Betrag sei, gemessen an der Bevölkerungszahl, ebenbürtig mit der unlängst angekündigten amerikanischen Investition.
Unter der Prämisse, dass auf Provokationen am besten mit kühlem Verstand zu reagieren sei, wären Claudia Sheinbaums Gelassenheit und Geduld die beste Methode. Wer die Zumutung des Irrationalen zu überbieten versucht, indem er einen noch grösseren Stein ins Wasser wirft, sei es finanziell wie Macron oder rhetorisch wie Snyder, steht bereits auf verlorenem Posten. Der Wettbewerb der Gedanken kann auf diese Weise nicht gewonnen werden.
China hat das längst erkannt. Es begegnet den amerikanischen Handelsrestriktionen pragmatisch und mit Verstand. Mit Deepseek hat ein chinesisches Unternehmen eine KI entwickelt, die im Vergleich zu den Produkten der amerikanischen Tech-Giganten bloss einen Bruchteil der Ressourcen verschlingt. Dass den chinesischen Entwicklern weniger Geld und schlechtere Chips zur Verfügung standen, scheint ihren Erfindergeist angestachelt zu haben.
Auch im irrationalen Zeitalter bleibt darum die Vernunft der Königsweg zum Fortschritt. Es kann gar nicht oft genug geschehen, dass sie von einem Stein des Anstosses herausgefordert wird. Die Vernunft wächst – im Unterschied zu Macrons Geldtöpfen – am Widerstand.