In den 1980er Jahren gingen Hunderttausende auf die Strasse und demonstrierten gegen Amerika. Heute bleibt es in Europa ruhig. Was wie Schwäche aussieht, könnte ein Kalkül sein.
Europas Antiamerikanismus ist legendär. Schon um 1750 mokierte sich ein Gast aus Paris über den «debilen Geist» der jungen Amerikaner. Seitdem gelten die USA als seelenlos und materialistisch, vulgär und kulturlos. Talleyrand lästerte: «32 Religionen, aber nur ein einziges essbares Gericht.»
Heute ist nicht die Arroganz Europas das Problem, sondern Donald Trumps «Ultra-Amerikanismus». Er verfemt die «alte Welt». Er attackiert die Nato, die segensreiche amerikanische Erfindung, die achtzig Jahre lang den Frieden und zugleich die Weltmachtstellung der USA gesichert hat. Das klassische Schreckgespenst ist die «Umkehr der Bündnisse» wie 1756, als sich die Urfeinde Habsburg und Frankreich nach zweihundert Jahren plötzlich gegen Preussen zusammenrotteten. Diesmal flirtet Trump mit Wladimir Putin.
Die Europäer hätten nun allen Grund, sich zu wehren. Aber nicht aus einem Antiamerikanismus heraus. Vorbei sind die Zeiten, da Charles de Gaulle den Amerikanern «alle erdenkbaren Dummheiten jenseits der Vorstellungskraft» attestierte. Oder da Gerhard Schröder George W. Bush im Irakkrieg abkanzelte: Deutschland «wird unter meiner Führung für Abenteuer nicht zur Verfügung stehen».
Die Heutigen sind keine Amerika-Verächter. Vielmehr fürchten sie Trump – übrigens genauso, wie es Vertreter der Republikanischen Partei und die zahnlosen Demokraten daheim tun. Die EU verhängt selektive Gegenzölle und setzt sie vorläufig wieder aus. Man entfesselt keinen echten Handelskrieg. Gleich nach der Inauguration reisten der französische Präsident und der britische Premier nach Washington und buhlten um Trumps Gunst. Hätte Berlin einen handlungsfähigen Kanzler, wäre auch der angetreten.
Warum? Die Europäer haben dreissig Jahre lang ihre Sicherheit ausgelagert und die Friedensdividende kassiert. Seit 1994 haben sie ihre Armeen radikal reduziert: Deutschland von 400 000 auf 180 000, England um die Hälfte, Frankreich auf 200 000. Jetzt treibt sie die Angst, und endlich reden sie wieder von Aufrüstung. Wenn denn die Abermilliarden im Konflikt zwischen Wohlfahrt und Verteidigung tatsächlich fliessen, wird der Aufbau ein Jahrzehnt lang dauern. Inzwischen bleibt Europa abhängig von der amerikanischen Übermacht. Die liefert Aufklärung aus dem All, Flugabwehr am Boden und Jets in der Luft – ganz zu schweigen von der atomaren Abschreckung.
Die Europäer zögern
Deutschlands künftiger Kanzler Friedrich Merz denkt deshalb an eine europäische Atommacht. Hier winkt zwar Frankreich wie seit eh und je mit seinem Schutzschirm. Aber wie heisst es seit de Gaulle? «Le nucléaire ne se partage pas» – Atomwaffen lassen sich nicht sozialisieren. Unterstellen wir, dass Frankreich Atomwaffen doch über den Rhein vorschiebt. Die alten Atomängste der Deutschen, die gar ihre Kernkraftwerke abschalten, könnten erneut aufflammen, Junge (und Alte) werden trotzdem nicht auf die Strasse gehen.
Doch zögern EU und UK, zusammen die zweitstärkste Wirtschaftsmacht auf Erden, sie zögern, ihr Gewicht in Macht umzumünzen. Denn 28 ist weniger als 1; die Kräfte der vielen summieren sich nicht. Dazu gehört ein gemeinsamer Staat unter einem gemeinsamen Willen, der auf Amerika verzichten und Russland abschrecken könnte. Was geht das ferne Spanien die Ukraine an? Oder den ungarischen Putin-Fan Orban? Wehrbereit sind nur die exponierten Skandinavier, Balten und Polen an der Nato-Ostgrenze. Dazwischen ist Deutschland, das laut Bismarck «nie den Draht nach St. Petersburg abreissen» lassen dürfe.
So viel zur grossen Politik. Noch interessanter aber ist das «Schweigen der Lämmer» in der Gesellschaft. Heute gehen in Deutschland Hunderttausende im «Kampf gegen rechts» und Rassismus auf die Strasse. Aber nicht gegen Trump, der Deutschland und Europa an allen Fronten bedrängt.
Faszination statt Widerstand
Erinnern wir uns an die Nachrüstung mit weitreichenden US-Atomwaffen in den 1980er Jahren. Bis zu 500 000 Menschen marschierten gegen Ronald Reagan, später gegen Vater und Sohn Bush in den Irakkriegen. Wer aber protestiert gegen Donald Trump? Dieser Hund bellt nicht, um Sherlock Holmes zu zitieren. Trump will die Europäer nicht wie Reagan mit amerikanischen Atomraketen schützen, sondern ihnen vielmehr den Schirm nehmen – mitsamt den amerikanischen Soldaten, die noch in Europa stehen.
Das ist das Paradox. Wo bleibt die Amerikakritik, wenn Trump an den Grundpfeilern rüttelt? Die tradierte Variante war stets abrufbar. Der Grossliterat Hans Magnus Enzensberger geisselte die «faschistischen Tendenzen» Amerikas. Der Pariser Kultusminister Jack Lang forderte 1982 «kulturellen Widerstand, einen Kreuzzug gegen Amerikas Imperialismus». Der amerikanische Politologe Andrei Markovits fasst es zusammen in seinem Buch «Amerika, dich hasst sich’s besser» (2004).
Inzwischen hat sich Europa amerikanisiert. Wir essen, trinken, tanzen, musizieren und kleiden uns amerikanisch – von Rap über Smoothies bis zu Sneakers. Das einst Verachtete läuft quer durch die Pop- und Hochkultur – von Hollywood bis Harvard, von McDonald’s bis MoMA, dem Kunsttempel in New York. Tagtäglich amerikanisiert sich die Sprache. Man sagt sich «Hi» statt «Guten Tag». Die Personalabteilung heisst heute «Human Resources». Die Teenies haben sogar die Körpersprache aus amerikanischen Serien übernommen. Dieser «Kulturimperialismus», den Arthur Koestler schon 1961 beklagte, kujoniert nicht, er fasziniert. «Europa hat das ganze Paket gekauft, weil es das wollte», schrieb er schon damals.
Doch erklärt der Sieg des «Amerikanismus» nicht, wieso Europa heute nicht auf die Strasse geht. Es gehorcht nicht dem alten Ressentiment, auch nicht dem kühlen Eigeninteresse, da Trump sich anschickt, die Weltordnung zu dekonstruieren, die ein Menschenalter lang den Grossmachtsfrieden bewahrt hat – plus Freihandel, Interessenausgleich und regelbasierten Umgang.
Wieso lässt sich dieses reiche Europa mit seinen 500 Millionen Bürgern von Trump einschüchtern, obwohl er die besten Traditionen zerstört? Die Stimmung hat sich nicht gedreht, das ist ein Trost. Vielmehr richtet sie sich gegen die Person Donald Trump. Erstaunlich genug: Zwei Drittel der Deutschen hätten Trump gewählt. Nun sehen nur noch elf Prozent von ihnen in den USA ein Land mit denselben Werten.
Die Wirtschaft schwächelt
«You don’t have the cards», geisselte Trump den ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenski im Weissen Haus. Die wirtschaftlichen Karten hat Europa sehr wohl. Dennoch: Die Wiederbelebung des alten Antiamerikanismus steht nicht auf dem Programm, obwohl Trumps Offensive sich weiterfrisst.
«Wo bleibt das Positive?», wurde Erich Kästner einst gefragt. Es geht gegen die Person, nicht gegen Amerika. Darin liegt der Unterschied zu den Protesten der «schreienden Lämmer» von früher.
Europas Gesellschaft scheint erwachsen zu werden. Immerhin fliessen nun Milliarden in die Rüstung, aber deren Früchte reifen langsam. Mut machen könnte indes der Blick nach Amerika.
Die Wirtschaft ist bekanntlich das Schicksal, und hier mehren sich die hässlichen Anzeichen. Die Inflation steigt, und die Trump-Wähler spüren, dass Zölle wie eine Steuer wirken, die ihre Kaufkraft dezimiert. Die jüngsten Umfragen besagen: Nur ein Drittel des Wahlvolks bejaht 25-Prozent-Wälle. Die Wachstumsrate fällt, es dräut die Rezession, und die Inflation steigt. Das Zukunftsvertrauen der Verbraucher ist auf den niedrigsten Stand seit 2022 gefallen. Der Konsumrückgang bremst die Wirtschaft und killt Jobs, obwohl Trump dem Volk ein «goldenes Zeitalter» verheissen hat.
Es trifft gerade die Ärmeren, die zu Trump übergelaufen sind. Europas Albtraum könnte schon im November 2026 enden, wenn ein neuer Kongress gewählt wird. Wenn denn die Demokraten sich aufrappeln und Trump die Quittung bekommt. Das wäre eine plausible Wette. Die zweite könnte auf Trump selber setzen. Sein Leitstern ist Aufmerksamkeit um jeden Preis. Hauptsache, er beherrscht die Abendnachrichten. Er weicht aber zurück, wenn er Widerstand spürt.
Daraus folgt für Europa, wenn es denn seine inneren Rivalitäten zügelt, dass es dem Mann die eigenen Trümpfe zeigen muss. Europas bester potenzieller Verbündeter ist der US-Wähler, der merken wird, dass er sich mit einem Hasardeur eingelassen hat.
Auf jeden Fall ist am 3. November 2026 Zahltag. Bis dahin gilt für Europa Kris Kristoffersons Song «Help Me Make It Through the Night». Im günstigen Fall könnte Europa Paroli bieten und zugleich das Beste von «made in USA» bewahren.
Der deutsche Publizist Josef Joffe hat zuletzt in Stanford und an der Johns-Hopkins-Universität Politik gelehrt.