Die Türkei hat wegen der israelischen Kriegsführung im Gazastreifen alle Handelsbeziehungen mit Israel ausgesetzt. Der türkische Präsident steht innenpolitisch unter Druck. Sein Konfrontationskurs schadet dem eigenen Land aber am meisten.
Recep Tayyip Erdogan dreht im Streit um den Krieg in Gaza an der Eskalationsspirale. Die türkische Regierung hat am Donnerstag allen Handel mit Israel ausgesetzt. Die Warenausfuhr in den jüdischen Staat sowie alle Importe von dort seien gestoppt worden, teilte das Handelsministerium in Ankara mit. Das Embargo bleibe in Kraft, bis Israel eine ununterbrochene und ausreichende Versorgung der Palästinenser im Gazastreifen mit Hilfsgütern erlaube.
Präzedenzloser Schritt
Der türkische Präsident ist seit einigen Wochen auf Konfrontationskurs zu Israel. Er empfing kürzlich den Hamas-Chef Ismail Haniya in Istanbul, was zu Spekulationen führte, die Türkei könne nach Katar zur neuen Basis für die politische Führung der Terrororganisation werden. Vergangene Woche kündigte Aussenminister Hakan Fidan an, dass sich die Türkei der südafrikanischen Genozid-Klage vor dem Internationalen Gerichtshof anschliessen werde.
Bereits Anfang April hatte Ankara zudem einen Exportstopp für 54 Kategorien von Gütern für Israel verhängt. Die nun erfolgte vollständige Aussetzung des Warenverkehrs bezeichnet die Regierung als zweite Phase dieser Massnahme.
Der Schritt ist präzedenzlos. Selbst während grösster Spannungen, und solche gab es zwischen den beiden Staaten immer wieder, wurde Handel betrieben. Für das von feindlichen Staaten umgebene Israel war die Türkei, die 1949 als erstes muslimisches Land den jüdischen Staat anerkannt hatte, in dieser Hinsicht immer ein verlässlicher Partner.
Trade relations between Turkey and Israel were the oxygen of Turkish-Israeli relations in the past two decades. Now that it is gone, I fear what will come next.
— Gallia Lindenstrauss (@GLindenstrauss) May 3, 2024
Die israelische Türkei-Kennerin Gallia Lindenstrauss nannte den Handel den Sauerstoff der bilateralen Beziehungen. Doch nun reisst Erdogan auch diese Brücke zum jüdischen Staat ein – und dies, nachdem das Verhältnis erst im vergangenen Jahr nach mehr als einem Jahrzehnt der Krise repariert worden war. Die neue Eiszeit zwischen Ankara und Jerusalem dürfte noch schwieriger zu überwinden sein.
Handelsvolumen von sieben Milliarden Dollar
Israels Aussenminister Israel Katz kommentierte Erdogans Embargo mit den Worten, dies sei das Verhalten eines Diktators, dem die Interessen seiner Bürger und Geschäftsleute egal seien. Ausserdem verletze der Schritt internationale Abkommen. Katz kündigte Gegenmassnahmen an. Eine israelische Industriekammer forderte Strafzölle von hundert Prozent auf türkischen Produkten während dreier Jahre.
Das Handelsvolumen der beiden Staaten ist nach einer langen Wachstumsphase seit einiger Zeit rückläufig. Der Krieg in Gaza hat den Trend verstärkt. Mit einem Wert von etwa sieben Milliarden Dollar war der Warenverkehr im vergangenen Jahr dennoch nicht unerheblich. Drei Viertel davon machten türkische Exporte aus.
Dabei handelt es sich vor allem um Stahl und andere Industrieprodukte. Noch unklar ist, ob das türkische Embargo auch für Güter aus Drittstaaten gilt. Israels Ölimporte aus Aserbaidschan etwa liefen bisher über die Türkei.
Wahlkampfthema Gaza
Erdogan ist praktisch seit Beginn der israelischen Militäroperation in Gaza, welche die Hamas mit ihrem Terrorangriff ausgelöst hatte, einer der schärfsten und lautesten Kritiker Israels. Der türkische Präsident hatte immer den Anspruch, als Fürsprecher der Palästinenser und der gesamten muslimischen Welt aufzutreten. Der Krieg und die relative Zurückhaltung vieler anderer muslimischer Staaten, etwa Saudiarabiens, gaben ihm nun erneut die Gelegenheit dazu.
Für den drastisch verschärften Ton der letzten Wochen gibt es aber auch innenpolitische Gründe. Das Thema Gaza hatte eine signifikante Rolle gespielt bei der schmerzlichen Niederlage von Erdogans AK-Partei bei den Lokalwahlen Ende März. Im Wahlkampf war ihm von islamistischer wie auch von linker Seite Scheinheiligkeit vorgeworfen worden, weil er Israel zwar heftig kritisiere, die Türkei aber weiterhin Handel mit dem Land betreibe. In ihrer Empörung über die zivilen Opfer in Gaza ist sich die sonst stark polarisierte Bevölkerung der Türkei weitgehend einig.
Der Handel mit Israel war aber auch deshalb zum Thema geworden, weil er Erdogans Gegnern als Beispiel dafür diente, wie die Regierungspartei ihre eigenen Interessen über alles stelle. In den Handel sind auch Geschäftsleute involviert, die dem Präsidentenpalast nahestehen. Vor diesem Hintergrund ist die Verhängung des Embargos, das direkt den türkischen Wirtschaftsinteressen widerspricht, ein durchaus ungewöhnlicher Schritt für Erdogan.
Hohe Kosten für die Türkei
Die Kosten des Eskalationskurses beschränken sich nicht auf die direkten Einbussen der Exporteure. Die Beziehungen mit Israel, in deren Normalisierung die Regierung in den letzten Jahren beträchtliche Ressourcen gesteckt hat, sind auf sehr lange Sicht beschädigt.
Das Embargo behindert aber auch die angestrebte Wiederannäherung an den Westen, besonders die USA. Das wird auch wirtschaftliche Folgen haben. Die angeschlagene Wirtschaft der Türkei ist dringend auf Investitionen angewiesen. Die Inflation lag im April bei 69,8 Prozent. Erdogan wollte mit einem Besuch in Washington – dem ersten seit dem Amtsantritt von Joe Biden vor drei Jahren – ein positives Signal senden.
Doch vor wenigen Tagen wurde die für den 9. Mai geplante Reise verschoben. Nun werden in den USA auch Forderungen nach Sanktionen laut. Der Streit könnte sogar die Lieferung der F-16-Kampfflugzeuge, die Erdogan im Gegenzug zur Zustimmung zu Schwedens Nato-Beitritt zugesichert bekommen hatte, gefährden.
In a move designed to please 🇹🇷 domestic voters, Erdogan is jeopardizing his country’s standing among Western allies, possibly beyond a point of no return
This will only hurt 🇹🇷 and its interests. Washington will be pressured to respond, possibly jeopardizing the F-16 transfers https://t.co/yNPo7uVc9v
— Sinan Ciddi (@SinanCiddi) May 2, 2024
Auch in Europa wird das ohnehin geringe Vertrauen in Ankara weiteren Schaden nehmen. Mit dem Bruch von Regeln der Welthandelsorganisation empfiehlt sich die Türkei nicht für eine Vertiefung der Zollunion oder eine anderweitige, engere Anbindung an die EU. Allerdings glaubt man in Ankara auch nicht, dass es in Brüssel hierfür ein aufrichtiges Interesse gibt.
Ein schwieriger Partner
Erdogan wird ein schwieriger, aber unerlässlicher Partner bleiben, mit dem man zusammenarbeitet, wo es gemeinsame Interessen gibt: bei der Migration, bei der Rüstungspolitik oder in der Ukraine. Daran ändert auch die Empörung über Erdogans Haltung gegenüber Israel nichts. Die mancherorts aufgekeimte Hoffnung, dass es auch für mehr reichen könnte, dürfte aber wieder schwinden.