Klarluftturbulenzen sorgen in der Luftfahrt immer wieder für Zwischenfälle. Studien legen nahe, dass der Klimawandel die Häufigkeit der ruppigen Bewegungen in der Atmosphäre befördert.
Als der Singapore-Airlines-Flug SQ321 am späten Abend des 20. Mai vom Flughafen London Heathrow abhebt, ahnt niemand, dass die Reise tragisch enden wird. Die Boeing 777-300ER ist mit 211 Passagieren und 18 Crewmitgliedern auf dem Weg nach Singapur, als die Maschine nach fast acht Stunden Flug südlich der Küste von Myanmar in schwere Turbulenzen gerät. Zahlreiche Menschen erleiden teilweise gefährliche Verletzungen. Ein Mann stirbt, wahrscheinlich an einem Herzinfarkt.
Was ist passiert? Laut einem Zwischenbericht des Transport Safety Investigation Bureau (TSIB) in Singapur geriet die Maschine in einer Höhe von 12 780 Metern (37 000 Fuss) aufgrund entstehender Gewitterwolken in Turbulenzen. Das Flugzeug sei rund 110 Meter angehoben worden, ohne dass die Piloten das Steuer bedient hätten.
Als Reaktion auf diesen unkontrollierten Höhenanstieg neigte der Autopilot das Flugzeug nach unten, um auf die gewählte Höhe von
37 000 Fuss abzusinken. Gleichzeitig stieg die Geschwindigkeit an, woraufhin die Piloten den Autopiloten abschalteten und die Luftbremse aktivierten. Sowohl die Änderung der Geschwindigkeit als auch der Höhe seien «höchstwahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass auf das Flugzeug ein Aufwind gewirkt» habe, schreiben die Flugexperten des TSIB.
Die Piloten schalteten sofort das Anschnallzeichen ein. Doch da rumpelte es erneut. Alles und jeder, der oder das nicht angeschnallt oder sonst wie gesichert war, flog durch die Luft – und knallte anschliessend auf den Boden. Das Innere des Flugzeugs glich einem Schlachtfeld.
Die Piloten entschieden, den Flug abzubrechen und in Bangkok notzulanden, um umgehend medizinische Hilfe zu ermöglichen.
Thomas Gerz, Turbulenzforscher am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), meint, dass der Vorfall vermeidbar gewesen wäre: «Man hätte wissen können, dass dort die Luft in Bewegung ist, und rechtzeitig Massnahmen ergreifen können.» Der Zwischenfall lenkte die Aufmerksamkeit auf sogenannte Klarluftturbulenzen, in Fachkreisen Clear Air Turbulences (CAT) genannt.
Jüngst gab es immer wieder Zwischenfälle, die auf CAT zurückgeführt wurden. Am 26. Mai wurde über der Türkei eine Boeing 787 Dreamliner von Qatar Airways heftig durchgeschüttelt – zwölf Menschen wurden verletzt. Im März geriet der Lufthansa-Flug LH469, auf dem Weg von Texas nach Frankfurt, in so schwere Turbulenzen, dass der Airbus A330-300 in Washington zwischenlanden musste. Sieben Passagiere kamen ins Krankenhaus.
Klarluftturbulenzen kommen förmlich aus heiterem Himmel und sind schwer vorherzusagen. Sie treten besonders in grossen Höhen auf, in denen die Flugzeuge mit hoher Geschwindigkeit unterwegs sind. Man kann sich das vorstellen wie ein Auto, das über einen Bordstein fährt: Bei langsamer Fahrt ist das harmlos. Mit Tempo 180 wird es gefährlich.
Entlang des Jetstreams bewegen sich die Luftschichten mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten in schmalen Bändern horizontal. Dabei entstehen Windscherungen, die Turbulenzen erzeugen. Diese können Flugzeugen gefährlich werden, da sie den Auftrieb der Maschinen verändern. Schwerewellen, die bei der Überströmung von Gebirgen entstehen, können ähnlich wie Wasserwellen brechen und ebenfalls starke Turbulenz erzeugen. Auch Gewitterwolken können Barrieren darstellen, die Turbulenzen erzeugen und die Flugzeuge auf und ab bewegen. Passagiere nehmen diese Bewegungen oft als «Luftlöcher» wahr. Die Wissenschaft spricht von einer Kelvin-Helmholtz-Instabilität.
Fachleute messen die Kräfte der Turbulenzen mit der Masseinheit EDR. Das Kürzel steht für Eddy Dissipation Rate. Infolge des Klimawandels dürften Forscher öfter mit dieser Einheit rechnen, das legt eine Studie der Universität Reading nahe: Wir finden eindeutige Belege für eine starke Zunahme in den mittleren Breiten in Reiseflughöhen.
An einem durchschnittlichen Punkt über dem Nordatlantik zum Beispiel stieg die jährliche Gesamtdauer der leichten oder grösseren CAT um 17 Prozent, von 466,5 Stunden im Jahr 1979 auf 546,8 Stunden im Jahr 2020. «Das liegt daran, dass die Jetstreams mäandern und sich nach Norden oder Süden schieben und somit die Bahnen der Flugzeuge über dem Nordatlantik kreuzen», sagt Gerz. Dieses Phänomen tritt aufgrund des Klimawandels immer häufiger auf.
Klarluftturbulenzen während des Fluges zu messen, ist schwierig. Standard an Bord sind bis jetzt Radargeräte, die Gewitterwolken erkennen. CAT sieht nur ein Lidar-System. Das sendet kurzwellige Laserstrahlen in Flugrichtung und bestimmt die Dichte der Luft anhand der Rückstreuwerte von Luftmolekülen, Sauerstoff und Stickstoff. Solche Messgeräte aber kommen in Linienmaschinen bis anhin nicht zum Einsatz. Sie sind schlicht zu schwer, zu gross und zu teuer.
Möglich ist es aber sehr wohl. Das DLR führte bereits vor rund zehn Jahren Messflüge durch und initiierte das Verbundprojekt Delicat – Demonstration of Lidar based Clear Air Turbulence Detection. Dafür entwickelten die Forschenden ein Frühwarnsystem fürs Cockpit, das mit UV-Laserstrahlen die Luftdichte bestimmt. «Wir sind weiterhin dran, das zu entwickeln. Der Teufel liegt, wie so oft, im Detail», sagt Thomas Gerz.
Statt nur auf teure Messgeräte an Bord setzen die Airlines auf gute Vorbereitung bei der Flugplanung. Dem Linienpiloten liegen bei der Flugplanung Daten des Global Forecast System (GFS) vor. Diese beinhalten präzise Werte zu Temperatur, Wind und Richtung am jeweiligen Ort und zur jeweiligen Zeit.
«Das Analysieren und Interpretieren solcher Daten verlangt tiefe meteorologische Kenntnisse und Routine sowie eine hohe Aufmerksamkeit während des Fliegens in Problemzonen. Ein hohes Instrumentierungsniveau im Cockpit kann dabei eine hilfreiche Rolle spielen. Die Sichtung Tausender Flüge zeigte, dass über 90 Prozent der Vorkommnisse vermieden werden könnten», sagt Dagobert Fretz, pensionierter Pilot und Luftfahrtberater bei Sicherheitsthemen.
«Turbulenzen nur anhand der Windgeschwindigkeit zu prognostizieren, stellte sich als falsch heraus», sagt Fretz. Für die aviatische Betrachtungsweise seien die horizontalen (Warm- und Kaltluftmassen) und vertikalen Grenzbereiche von Bedeutung. In diesen Zonen treffen Luftmassen verschiedener Dichte und Temperatur aufeinander. Da der Luftdruck mit zunehmender Höhe abnehme, spiele vor allem der Temperaturgradient eine ausschlaggebende Rolle.
«Da bei warmen Luftmassen die Moleküle weiter auseinanderliegen, ist deren Dichte und somit Tragfähigkeit geringer als bei kalten Luftmassen», sagt Fretz. Man könne sich das gut am Beispiel Skifahren vorstellen: wenn der Fahrer beim Verlassen des komprimierten Pistenschnees im Tiefschnee einsinke oder durchsacke.
Tatsächlich kennt man heute die Gebiete, in denen häufig Turbulenzen auftreten, recht genau. Meist sind das Zonen über einem markanten Relief am Boden. Die wohl turbulenteste Flugroute führt demnach über die Anden: von Santiago de Chile nach Santa Cruz in Bolivien. In Europa führt die Liste der ruppigsten Flüge die Route Mailand–Genf an. Und in Amerika sind es meist Verbindungen über die Rocky Mountains.
Während Linienpiloten mit ihren Riesenmaschinen die enormen Aufwinde über den Gebirgskämmen meiden, suchen Segelflieger sie ganz bewusst. Sie gleiten auf sogenannten Leewellen, die sich Dutzende Kilometer hoch aufschwingen, von Rekord zu Rekord – sie erkunden in ihren Experimentalflugzeugen das Phänomen und sammeln Daten für die Forschung. So hat der Rekordpilot Klaus Ohlmann etwa das Mountain Wave Project mitinitiiert. An den Ergebnissen sind auch die grossen Flugzeughersteller interessiert. Wenn sie wissen, wo und wann Turbulenzen auftreten, lassen sich Abnutzungseffekte minimieren. Und das senkt die Wartungskosten.
Mark Prosser, Meteorologe an der University of Reading und Leiter der oben genannten Studie, sagt: «Die Fluggesellschaften müssen sich Gedanken darüber machen, wie sie die zunehmenden Turbulenzen in den Griff bekommen, denn sie kosten die Branche allein in den Vereinigten Staaten jährlich 150 bis 500 Millionen Dollar. Jede zusätzliche Minute, die wegen Turbulenzen verbracht wird, erhöht die Abnutzung des Flugzeugs.»
Wer wissen will, wie turbulent es auf dem nächsten Flug wird, kann bis etwa 36 Stunden vor Abflug auf der Website turbli.com nachsehen. Eines sei aber so oder so dringend geraten: sich anzuschnallen. Und zwar die ganze Zeit – im Auto klappt das ja auch.