Der Experte Joe Navarro analysiert die Körpersprache von Politikern. Bilder seien viel mächtiger als Worte, sagt er.
Wird er sich ihr gegenüber öffnen? Klagt sie ihn an? Donald Trump und Kamala Harris sprechen auch mit ihren Körpern. Beim Publikum kommt die Botschaft an.
Am Dienstag stehen sich Kamala Harris und Donald Trump in Philadelphia zum TV-Duell gegenüber. Es wird der erste und voraussichtlich auch letzte Schlagabtausch vor dem Urnengang vom 5. November sein.
Beide Kontrahenten wissen um die Bedeutung des Auftritts, entsprechend intensiv bereiten sich die beiden darauf vor. Die Fernsehdebatte dauert neunzig Minuten, als einzige Hilfsmittel erhalten die Kandidaten einen leeren Notizblock und einen Kugelschreiber. Das Duell wird besonders aufschlussreich, da sich die beiden zum ersten Mal begegnen. Ein souveräner Auftritt kann den Kandidaten einen wichtigen Vorteil verschaffen.
Joe Navarro weiss, wie wichtig die Körpersprache im Wahlkampf ist. Sie könne einen Wahlkampf mitentscheiden, sagt er. Navarro, 71, beschäftigt sich seit über fünfzig Jahren mit nonverbaler Kommunikation und gehört in den USA zu den Experten auf dem Gebiet. Als er sich Ende Juni die Fernsehdebatte zwischen Joe Biden und Donald Trump ansah, stellte er den Ton ab. Nicht weil er Bidens «schrecklichen» Auftritt, so sein Urteil, nicht ertragen hätte. Sondern um die Mimik und Gestik des amerikanischen Präsidenten und Trumps zu studieren. Navarro tut das öfter, wenn er Politiker bei einem Auftritt beobachtet.
Der Sohn kubanischer Immigranten arbeitete während 25 Jahren beim FBI, wo seine Analysen von Körpersprache bei der Spionageabwehr und der Terrorismusbekämpfung gefragt waren. Heute berät er Politiker und Unternehmen.
Herr Navarro, warum ist es so entscheidend, welchen Gesichtsausdruck ein Präsidentschaftskandidat bei einem Fernsehauftritt hat, wie er seinen Körper bewegt, wohin er schaut oder was er mit seinen Händen anstellt?
Wir erinnern uns Jahre später kaum daran, was ein Politiker bei einem Auftritt gesagt hat. Aber wir erinnern uns an die Bilder. Bilder haben eine Macht, und dazu gehört die Sprache des Körpers. Sich auf Äusserlichkeiten zu konzentrieren, mag oberflächlich erscheinen, aber sie machen einen Unterschied.
Sie haben viele Fernsehduelle zwischen Präsidentschaftskandidaten analysiert. Welche haben sich Ihnen besonders eingeprägt?
Schon die erste live übertragene TV-Debatte 1960 zwischen Präsident Richard Nixon und John F. Kennedy war legendär. Kennedy trug einen massgeschneiderten Anzug und war braungebrannt. Er wusste das Medium für sich zu nutzen, sprach in die Kamera und richtete sich so direkt ans Publikum. Nixon wirkte unkonzentriert, er schwitzte stark und wischte sich ständig mit einem Taschentuch den Schweiss ab. Interessant waren die Umfragen danach: Diejenigen, die die Debatte am Radio verfolgt hatten, waren überzeugt, Nixon habe gewonnen. Wer das Duell am Fernsehen gesehen hatte, war gerade anderer Meinung: Kennedy sei viel überzeugender aufgetreten. Dieser wurde dann bekanntlich zum nächsten Präsidenten gewählt.
Welches Duell stach noch heraus?
Als Donald Trump 2016 gegen Hillary Clinton antrat, stellte sich Trump immer wieder nahe hinter Clinton. Es wirkte bedrohlich, als stalkte er sie. Auch hier erinnert sich niemand an den Inhalt der Debatte. Dasselbe, als Präsident George H. W. Bush 1992 im Duell gegen Bill Clinton auf seine Uhr schaute. Da war es für ihn vorbei.
Weshalb wirken Bilder so viel stärker als Worte?
Man fällt ein Urteil über jemanden unglaublich schnell allein aufgrund von Beobachtungen. Dabei geht es um unterschwellige, nicht bewusst wahrgenommene Reize. Es braucht nur wenige Sekunden, um jemanden richtig einzuschätzen. Man erkennt sofort, wie es ihm geht, ob er unsicher oder überfordert ist. Das wurde untersucht: Aussenstehende Beobachter, die einem Lehrer ein paar Sekunden lang beim Unterrichten zusehen, bewerten ihn gleich wie die Studenten, die ihn das ganze Semester in der Klasse erlebt haben.
Wie wichtig ist für diesen ersten Eindruck das Aussehen?
Eine gutaussehende Person hat grössere Chancen, gewählt zu werden. Es spielt eine Rolle, wie uns jemand fühlen lässt. Das weiss man aus der Wahrnehmungspsychologie. Es ist ungerecht, aber wir bevorzugen grosse und schöne Menschen. Man hält sie für besonders vertrauenswürdig und kompetent. Dabei wirkt der Halo-Effekt, eine Art Heiligenschein, mit dem man jemanden versieht. Das heisst, man schliesst von einem auffälligen Merkmal auf alle anderen Charaktereigenschaften einer Person. Diese kognitive Verzerrung sieht man auch bei Beförderungen.
Das soll auch für die Präsidentschaftswahl entscheidend sein?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Ein durchschnittlicher männlicher Amerikaner ist etwas über 1 Meter 76 gross. Die bisherigen Präsidenten waren durchschnittlich 1 Meter 82 gross. Nicht nur Attraktivität ist also ein Vorteil, sondern auch die Grösse. Als ich Politiker trainiert habe, haben wir immer darauf geachtet, dass bei Debatten der Abstand zwischen zwei Podien mehr als zwei Meter beträgt, weil die Kamera dann den Grössenunterschied zwischen den Teilnehmern ausgleichen kann. Ist jemand sehr viel kleiner, hilft ihm auch ein Podest.
Wie wahlentscheidend sind Live-Debatten heute noch?
Das Fernsehduell ist nicht mehr so bedeutend wie in den 1960er und 1970er Jahren. Die meisten Leute befinden sich in ihren Informationssilos und haben sich bereits für einen der beiden Kandidaten entschieden.
Warum schaut man sich das Fernsehduell dennoch an?
Solche Debatten sind eine Form von Theater. Die Leute wollen sehen, wer die meisten Witze und die wildesten Gesten macht, wem welche Fehler unterlaufen, wer versagt. Das Publikum erwartet ein Spektakel wie im Zirkus. Wird etwas Schreckliches passieren? Wird jemand vom Trapez fallen? Greift der Tiger den Dompteur an?
Die Debatte zwischen Joe Biden und Donald Trump im Juni hat zu Bidens Ausstieg aus dem Rennen ums Weisse Haus geführt. Was haben Sie gedacht, als Sie sich diese angeschaut haben?
Schrecklich – ich kann es nur mit diesem Wort beschreiben. Als ich Biden zum Rednerpult trippeln sah, wusste ich innerhalb der ersten Sekunden, dass dieser Auftritt für ihn nicht gut ausgehen würde. Als ich in Washington für das FBI arbeitete, sah ich ihn einmal in einem Restaurant. Diese Energie, wenn er mit anderen Leuten sprach. Das alles war weg, die Reaktionsfähigkeit, der sichere Gang. Ich konnte nicht glauben, was ich sah. Katastrophal.
Plötzlich wirkte der 78-jährige Trump jung neben ihm.
Was mir an Trump auffiel, war seine Bräune. Ein gebräuntes Gesicht strahlt Gesundheit, Vitalität und Energie aus. Daneben sah Biden kreidebleich aus, was ihn noch gebrechlicher wirken liess. Seine Bewegungsarmut wurde umso augenscheinlicher, als Trump mit dynamischen Handbewegungen die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf sich zog.
Trump ist ein Showman. Er weiss, wie man im Fernsehen auftritt, er besitzt eine telegene Authentizität.
Jedenfalls kommt er damit bei seiner Anhängerschaft an. Seine Gesten, seine Rhetorik und die Worte, die er wählt, «great», «so sad» – das hat etwas Einnehmendes, damit veranstaltet er für seine Fans den Trump-Karneval, wie sie ihn lieben.
Nun treten am Dienstag erstmals Kamala Harris und Donald Trump in einer Fernsehdebatte gegeneinander an. Neben der Körpersprache ist auch eine gute Rhetorik entscheidend. Wie beurteilen Sie die rhetorischen Fähigkeiten der beiden?
Trump hat ein begrenztes Vokabular, er wiederholt oft dieselben Sätze, was ihn wie einen Fünftklässler klingen lässt. Kamala Harris’ Wortschatz entspricht demjenigen einer Hochschulabsolventin. Sie hat Jura studiert, und ihre Erfahrung im Gerichtssaal könnte ihr helfen. Sie weiss, wie man diszipliniert argumentiert. Trump argumentiert, indem er Emotionen anspricht. Er arbeitet mit Vereinfachungen: Alle mexikanischen Migranten sind kriminell. Den Klimawandel gibt es nicht. Das sind noch keine Argumente.
Kamala Harris lacht oft laut und herzhaft, manchmal wirkt das der Ernsthaftigkeit der Situation nicht angemessen. Sollte sie sich bei der Fernsehdebatte etwas zurücknehmen, um sich weniger angreifbar zu machen?
Mich stört, dass man Menschen auffordert, ihre Freude zu regulieren. Harris hat indische und jamaicanische Wurzeln. In diesen Kulturen werden manche Verhaltensweisen anders bewertet, man zeigt seine Lebensfreude und Unbeschwertheit viel direkter und körperlicher, so wie es Harris eben tut. Gute Laune ist ein wichtiger Aspekt, der über die Körpersprache vermittelt wird. Das wird in der Politik unterschätzt. Fröhlichkeit ist verführerisch, auch intellektuell, zu diesen Menschen fühlt man sich hingezogen. Damit hat übrigens auch Bill Clinton die Leute gewonnen. Aber ja, mag sein, dass Harris’ Lachen in manchen Situationen irritiert, dass es auch ein Zeichen von Überforderung und Unsicherheit ist. Es wird auf jeden Fall interessant zu sehen sein, ob Harris ihr Lachen beim Duell gegen Trump ablegt.
Trump sieht man selten lachen. Er wirkt neben Harris wie ein Griesgram. Wenn er es doch einmal tut – was sagt sein Lächeln aus?
In der Minute, in der man Trump die Lippen schürzen sieht, kann man sich auf eine sarkastische oder verächtliche Bemerkung gefasst machen. Wenn er lächelt, presst er die Lippen stark zusammen, er zieht die Mundwinkel nach oben und zur Seite. Dadurch wirkt das Lächeln gekünstelt. Ein solches Lächeln kann auch der nonverbale Versuch sein, einen verbalen Angriff abzuwehren. Daneben macht Trump oft einen Schmollmund. Er spitzt die Lippen, was bedeutet, dass ihm etwas missfällt.
Man erhält in solchen Fernsehdebatten oft den Eindruck, als würden die Kandidaten nicht miteinander reden, sondern aneinander vorbeireden. Blickkontakt wird vermieden. Warum?
In der letzten TV-Debatte vermied es Trump mehrheitlich, Biden direkt anzuschauen. Er schaute in die Kamera oder zu den Moderatoren. Harris als ehemalige Staatsanwältin wird die direkte Konfrontation nicht scheuen. Trump dürfte das nicht gerne haben. Er mag es nicht, wenn er unter die Lupe genommen wird, schon gar nicht von einer Frau.
Trump schliesst oft die Augen, wenn er spricht. Was ist das für ein Reflex?
Man senkt die Augen, wenn einem etwas missfällt oder man eine Frage nicht mag. Man schliesst sie unbewusst, um Druck auf den Augapfel und die Augenlider auszuüben. Das hat eine ähnliche Funktion wie das Berühren des Gesichts. So baut man vorübergehenden Stress ab. Es wirkt selbstberuhigend. Wir hören eine schlechte Nachricht und gehen mit der Hand ins Gesicht. Oder wir pressen die Lippen zusammen oder fassen uns an die Nase.
Das heisst, solche Gesten wirken unsouverän?
Die selbstberuhigenden Verhaltensweisen machen sich nicht gut bei Leadern, weil sie diese unsicher und schwach aussehen lassen. Von einem Leader will man grosszügige, aber ruhige Gesten sehen. Er benutzt seine Arme und Hände, um das Gesagte zu veranschaulichen. Manche Leute gestikulieren furchtbar mit Armen und Händen.
Was wird mit dem Gefuchtel signalisiert?
Wer so fuchtelt, sieht aus wie ein umgedrehter Schneebesen, dieses Küchengerät, mit dem man Eier quirlt. Es lässt einen unorganisiert aussehen und lenkt von den Worten ab. Ein guter Redner benutzt seine Hände so . . . (Navarro macht ruhige vertikale und horizontale Bewegungen, während er davon spricht, dass man alles erreichen könne, wenn man seine Hände richtig bewege.) Es geht also darum, die Botschaft zu verstärken, sie durch die Gestik aufzuwerten, ihr Kraft zu verleihen. Durch eine geballte Faust, den erhobenen Zeigefinger oder offene Handflächen. Weiter sollte man dabei nicht wie ein Maschinengewehr klingen und die Sätze herunterrattern. Sondern Kadenz ist wichtig, also Rhythmus und Betonung.
Welcher Politiker tritt bei öffentlichen Reden besonders überzeugend auf?
Barack Obama war der wahrscheinlich aussergewöhnlichste Kommunikator seit John F. Kennedy: seine geschmeidigen Gesten, die artikulierte Sprache, seine Wortgewandtheit. Er spricht in den besagten Kadenzen. Man hört Leuten, die so reden, einfach gerne zu. Wie Martin Luther King: «Ich habe einen Traum, dass eines Tages unsere Kinder leben werden.» Oder Churchill: «Wir werden an den Stränden kämpfen.» So verführt man das Publikum.
Wie sollte sich ein Kandidat in Amerika kleiden, um kompetent und sympathisch zu wirken?
Alle männlichen Politiker in Amerika tragen marineblaue Anzüge, weisses Hemd und eine rote oder burgunderfarbene, manchmal auch blaue Krawatte. Das entspricht den Farben der amerikanischen Flagge. Es ist eine Uniform. Frauen haben einen grösseren Spielraum. Kamala Harris kann ihre Businessanzüge in jeder Farbe tragen.
Fast jeder Politiker trägt inzwischen eine Anstecknadel mit der amerikanischen Flagge am Revers. Was hat es damit auf sich?
Das ist ein neueres Phänomen, das sich während der Barack-Obama-Administration durchsetzte. Ein politischer Kommentator sagte auf Fox News: Wissen Sie, Mr. President, wer stolz auf unser Land ist, trägt die amerikanische Flagge. Obama musste viel Wahrnehmungsmanagement betreiben, weil er von Leuten wie Trump beschuldigt wurde, kein Amerikaner zu sein. Natürlich sagt der Pin nichts darüber aus, wie patriotisch jemand ist. Unbewusst wird das vom Publikum aber registriert. Auch die Anstecknadel ist Teil des Theaters.
Die Debatte zwischen Harris und Trump wird vom Fernsehsender ABC ausgestrahlt und findet am Dienstagabend um 21 Uhr Ortszeit in Philadelphia statt. Bei uns wird sie am 11. September um 3 Uhr morgens auf ARD und ORF zu sehen sein.