Gitai ist einer der produktivsten Regisseure Israels. Sein Berlinale-Beitrag «Shikun» ist am absurden Theater von Ionescos «Nashörnern» angelehnt und bietet einen interessanten Blick ins Landesinnere.
Mit seinen über fünfzig Inszenierungen ist Amos Gitai einer der aktivsten Regisseure Israels, vielleicht auch einer der innovativsten. Dank der Konstanz seiner Karriere, die sich mittlerweile über vier Jahrzehnte erstreckt – gut die Hälfte des Alters seines Heimatstaats –, zählt er zudem zu den bekannten Stimmen der israelischen Öffentlichkeit. Seinen Ruf verdankt er Spielfilmen wie «Kadosh», «Kedma» und «Promised Land», die mittels einer präzisen Filmsprache von den Traumata und Brüchen seines Landes berichten.
Als effiziente Stilfiguren erweisen sich hierbei die langsamen Kamerafahrten und -schwenks, die die Spannungen in eine nachvollziehbare Form bringen und dem Chaos der nationalen Realitäten eine lesbare Ordnung unterlegen. Dass er der Gefahr der diskursiven Trockenheit entkommt, liegt vermutlich an seinen bemerkenswert expressiven Frauenporträts, die dem Filmemacher, etwa in «Free Zone» und «Plus tard tu comprendras», neben Yaël Abecassis auch die Präsenz von Natalie Portman, Hiam Abbass und Jeanne Moreau garantieren konnten.
Komplementär zu den Fiktionen, die er wie ein Architekt angeht, dreht Gitai seit dem Beginn seiner Laufbahn zudem auch Dokumentarfilme, die er als Ausdrucksfeld einer visuellen Archäologie betrachtet. Interessant ist in dieser Hinsicht die Trilogie «Bait» («House»), eine sich über 25 Jahre erstreckende Dokumentation über ein grossbürgerliches Wohnhaus in Westjerusalem. Einst Eigentum einer palästinensischen Arztfamilie, kam das Anwesen nach einem von Arbeitern und Steinmetzen aus dem Westjordanland durchgeführten Umbau in den Besitz eines israelischen Ökonomen.
Sozialbau in der Negev-Wüste
«Shikun», sein jüngster Film, der nun an der Berlinale Weltpremiere hatte, müsste in formaler Hinsicht vermutlich einem neuen Genre zugeteilt werden. Die Inszenierung, ausschliesslich in einem heruntergekommenen Sozialbau in Beer Sheva in der Negev-Wüste gedreht, erweist sich als gefilmtes Theater, wobei die Regie die gestalterischen Möglichkeiten der Kamera von der Tiefenschärfe bis zu der Nahaufnahme stets im Auge behält.
Das Drehbuch ist in unmittelbarer Nähe zu Eugène Ionescos «Nashörnern» angesiedelt, einem Klassiker des absurden Theaters, dessen Hauptfigur, von einer sich verausgabenden Irène Jacob gespielt, hier im Kinodekor zur Auferstehung gelangt. Monologe skandierend, von dunkler Vorahnung getrieben, durchquert die Schauspielerin (die Figuren des Films bleiben namenlos) die langen Gänge und hallenartigen Räume der heruntergekommenen Betonstruktur, in der sie mit einer Vielzahl von teilweise surreal eingefärbten Alltagsszenen konfrontiert wird.
Ist die Regieführung unübersehbar von einer zentrifugalen Kraft getragen, so wird die Leinwand zugleich auch zum Transitort für eine zufällig vereinte Bevölkerung, die hinsichtlich Herkunft und Identität kaum unterschiedlicher sein könnte. Zwei orthodoxe Männer kreuzen in einer Fellini-artigen Szene eine junge Palästinenserin auf einem Roller, ein Unternehmer bespricht mit dem Architekten die Gewinnmargen eines Neubaus, eine Lehrerin bemüht sich, den neu angekommenen Immigranten aus Indien, der Ukraine und Weissrussland rudimentäre Kenntnisse der hebräischen Sprache zu vermitteln. Erst am Ende, als über dem Sprachengewirr die Strophen von Mahmud Darwischs Gedicht «Denke an die anderen» nachklingen, wird sich der geografische Radius der Inszenierung wieder verkürzen.
«Shikun» ist vor dem 7. Oktober entstanden, dennoch erscheint der Film nicht aus der Zeit gefallen. In erster Linie ist dies der radikalen Formstrenge der Inszenierung zu verdanken, die, im labilen Gleichgewicht zwischen den Gegensätzen installiert, an der Schnittstelle von Innen und Aussen, Konstruktion und Dekonstruktion, Realismus und Absurdität, Rohbau und Ruine angesiedelt ist. Allerdings liegt es vielleicht auch an seiner biografischen Erfahrung, dass der Regisseur auch heute den richtigen Ton trifft.
Es war ein Helikopterabsturz über Syrien – Gitai war im Jom-Kippur-Krieg als Sanitäter im Dienst –, dem er die Erkenntnis verdankte, wie rasch man «vom Retter zum Opfer wird», auch wenn er, wie er anlässlich eines E-Mail-Austauschs aus Tel Aviv schreibt, anschliessend siebenundzwanzig Jahre brauchte, um einen Film («Kippur») über seine Erfahrung drehen zu können. Als entscheidend für die Regieführung erwies sich damals das Bewusstsein, «ein Individuum im Inneren eines grossen Mechanismus zu sein», ein Zeuge im Sinne Picassos, als er «Guernica» malte: der Zeuge eines Verbrechens.
Die Ermordung Rabins
Dieser moralische Anspruch an den Blick ist insbesondere in Gitais politischen Filmen spürbar, etwa in «Journal de campagne», im Westjordanland während der Libanon-Offensive gedreht, sowie in «Rabin, the Last Day», der die Ermordung des Ministerpräsidenten am 4. November 1995 durch einen religiösen Fanatiker nachzeichnet: «Yitzhak Rabin war sowohl Realist als auch Visionär, er wollte dem Nahen Osten eine machbare Alternative bieten und dachte, die Wahrheit zu sagen, könnte hierzu eine gute Basis bilden. Diesem Versuch wurde durch seinen gewaltsamen Tod ein Ende gesetzt.»
Visionär und zugleich realistisch scheint auch Gitais Wille, den Blick auf das Gegenüber stets offen zu halten. Immer wieder zitiert er den Satz, den ihm der palästinensische Bürgermeister von Nablus nach dem Libanon-Krieg gesagt hatte: «Pessimismus ist ein Luxus, den wir uns nicht leisten können.» Trotz der «Möglichkeit, oder leider wohl Wahrscheinlichkeit, dass wir verlieren», dass sich die Kunst als machtlos erweist, hält der Filmemacher die Frage, «was der Film zu tun vermag», denn auch weiterhin bewusst offen: 1997 hatte er, zusammen mit dem palästinensischen Regisseur Elia Suleiman, den Dokumentarfilm «Guerre et paix à Vesoul» gedreht, 2019 entstand, an Albert Camus’ in den Kriegsjahren entstandenes Textkonvolut «Lettres à un ami allemand» angelehnt, die Videoproduktion «Letter to a Friend in Gaza».
Seit dem 7. Oktober scheinen die Möglichkeiten des artistischen Engagements beschränkter denn je. Der Gewaltorgie der Hamas sind nicht nur junge Zivilisten und gezielt Frauen zum Opfer gefallen, «die barbarischen Akte waren auch antipalästinensisch, weil sie die einzig mögliche Perspektive, den Dialog zwischen den Völkern, zerstören». Die Gegenwart erinnere ihn an das Gefühl, das vor fünfzig Jahren vorgeherrscht habe, «allerdings ist der heutige Zyklus schlimmer als jener, den unsere Generation gekannt hatte. Für uns war der Feind der Tod: Wir wollten Leben retten.»
Die Schockwellen seit Netanyahus Justizreform
Angesichts des Verlusts der fundamentalsten Bezugspunkte bietet Gitais Vision von Ionescos «Nashörnern» tatsächlich einen interessanten Einblick ins Landesinnere. Die Fiktion scheint stets über einem Abgrund zu schweben, getragen von widersprüchlichen Energien, einem schwelenden Chaos und Figuren, die rastlos die Leinwand durchqueren. Die Absage an die Rationalität, die Ionesco mit seinem Text Ende der 1950er Jahre im Hinblick auf den Totalitarismus formulierte, tritt hier in Resonanz mit den Schockwellen, die das Land seit der von Netanyahus Regierung in die Wege geleiteten Justizreform durchziehen.
«Die Wirklichkeit, wie auch immer wir sie betrachten», formuliert Gitai, «bietet kein kohärentes Bild. Sie bietet nicht einmal die Illusion einer Einheit, einer durch Traditionen verbundenen Gemeinschaft, in der sich die Generationen kontinuierlich folgen.» Einst sei Israel der Zufluchtsort der Juden gewesen, fügt er an, «heute stellt sich die Frage, welche Gesellschaft daraus entstehen wird».
Eine Szene kontrastiert mit dem kontinuierlichen Fluss, in dem «Shikun» gehalten ist. Sie spielt in einer Bibliothek; das Buch, das die Schauspielerin Hana Laszlo aus den Regalen zieht, ist mit Kinderzeichnungen illustriert, die im Ghetto von Theresienstadt entstanden sind. Sie hatte das Exemplar von Verwandten, die die Deportation überlebt hatten, zu ihrer Bat-Mizwa erhalten. Unversehens verlangsamt sich der Rhythmus der Inszenierung, es ist vielleicht der einzige Moment, in dem der Film zu seinem Zentrum findet.