Seit der Pandemie haben US-Unternehmen den Rest der Welt an der Börse abgehängt. Alle wissen: Amerikanische Aktien sind überbewertet, eine Korrektur ist naheliegend. Die Chance ist jedoch intakt, dass die Gesetze der Schwerkraft vorerst ausgesetzt bleiben.
Seit einiger Zeit beobachtet Sharmin Mossavar-Rahmani, die Anlagechefin des Wealth Management von Goldman Sachs, dass sich ihre Kunden in zwei Lager aufteilen.
Ihre europäischen Kunden fragen vermehrt, ob sie amerikanische Aktien untergewichten sollen.
Viele Amerikaner fragen dagegen, warum sie überhaupt europäische und asiatische Aktien halten sollen, wenn doch die einheimischen Titel derart gut laufen.
Ungewöhnlich ist, dass beide Lager ihre Überzeugungen mit derselben Beobachtung begründen: Die relative Überbewertung der amerikanischen Firmen gegenüber dem Rest der Welt steigt und steigt. 2024 hat sich das Missverhältnis noch einmal verschärft. Der US-Leitindex S&P 500 hat erneut um fast einen Viertel zugelegt, während europäische und asiatische Titel nur moderate Zugewinne erzielten. Inzwischen machen amerikanische Unternehmen fast drei Viertel des MSCI World aus, eines beliebten Welt-Aktienindexes.
Wäre nicht längst eine Korrektur fällig?
Schwieriges Timing
Auch Mossavar-Rahmani räumt freimütig ein, dass die Bewertungen der amerikanischen Aktien sehr hoch sind, gemessen an den derzeitigen und den noch zu erwartenden Gewinnen. Doch sie rät ihren Kunden weiterhin, investiert zu bleiben. «Hohe Bewertungen sind kein präzises Signal, um den Markt zu timen.»
Der Rat mag der Intuition widersprechen. Aber der Zeitpunkt von Marktkorrekturen lässt sich nicht vorhersagen, sonst würden sie von den Investoren ja sofort vorweggenommen. In der Vergangenheit hielten die Boom-Phasen des amerikanischen Aktienmarkts mehrfach noch über Jahre an, nachdem erstmals eine Überbewertung konstatiert worden war.
Ein jahrelanges Abseitsstehen kommt die Anleger oft teurer, als wenn sie einmal eine Baisse mitmachen. Bonds liefern über einen längeren Anlagehorizont schlicht nicht dieselbe Rendite wie Aktien. Noch schlechter schneiden im langfristigen Vergleich Gold oder Rohstoffe ab, die keine Erträge generieren.
Beim Investieren keine Politik betreiben
Hilfreich ist es, wenn sich Anleger beim Investitionsentscheid nicht von ihren persönlichen politischen Ansichten verleiten lassen. Die USA haben, besonders in Europa, schon immer polarisiert. Die erneute Wahl von Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten wird diese Polarisierung zweifellos noch verstärken.
Manche Auguren sagen seit Jahr und Tag das Ende des Dollars als Leitwährung voraus oder das Ende von Amerikas wirtschaftlicher Vorherrschaft schlechthin. Oft schwingt bei diesen Prognosen eine gehörige Portion Antiamerikanismus und folglich auch Wunschdenken mit. Alle Länder, welche die USA gemäss solchen Prognosen als Wirtschaftsmacht Nummer eins hätten ablösen sollen, sind wieder zurückgefallen: zuletzt Japan in den 1990er Jahren und gegenwärtig China, das mit schweren wirtschaftlichen Problemen kämpft.
Aber auch Anleger, die Uncle Sam positiv gegenüberstehen, brauchen eine Erklärung, welche die sehr hohe Bewertung der amerikanischen Titel einigermassen rechtfertigen kann.
Viele Analysten – auch bei den grossen amerikanischen Banken selbst – erwarten nämlich, dass der US-Aktienmarkt über die nächsten fünf bis zehn Jahre nicht mehr an die Wachstumsraten der jüngeren Vergangenheit herankommen wird. Zudem ist nur eine Handvoll Superstar-Unternehmen für einen Grossteil des Bewertungszuwachses verantwortlich: Chipdesigner Nvidia, iPhone-Hersteller Apple sowie Amazon, Meta, Tesla, Microsoft und Google-Mutterkonzern Alphabet. Die 10 grössten amerikanischen Firmen machen fast 40 Prozent des S&P 500 aus – ein historischer Höchstwert.
Demografischer Vorteil für die USA
Manche Optimisten hoffen auf das Szenario der «Roaring Twenties», wie es der bekannte amerikanische Anlageexperte Ed Yardeni vor Jahren schon skizziert hat. In aller Kürze: Ein starker Produktivitätszuwachs der amerikanischen Wirtschaft werde die derzeit hohe Bewertung der Unternehmen rechtfertigen – auch, aber nicht nur, weil die KI-Revolution im Arbeitsalltag Einzug hält.
Doch auch ohne humanoide Roboter und selbstfahrende Taxiflotten hat die amerikanische Wirtschaft laut Mossavar-Rahmani zahlreiche Trümpfe, die sie nicht so schnell verlieren wird.
Zunächst einmal haben die USA eine wesentlich vorteilhaftere Demografie als Europa und viele asiatische Länder. Die Kinderzahl pro Frau liegt, je nach statistischer Erhebungsmethode, wohl bei 1,7 oder 1,8, und damit nur leicht unter dem Wert von 2,1, bei dem die Bevölkerung auf lange Frist etwa stabil bleibt. In Europa kommen viele Länder auf Werte von 1,4, in China, Japan oder Südkorea auf noch deutlich tiefere.
Zudem zieht es weiterhin zahlreiche Einwanderer in die USA, viele davon sind sehr gebildete jüngere Erwachsene. Selbst bei einer nur moderaten Zuwanderung, wie sie in Amerika derzeit politisch angestrebt wird, dürfte die Gesamtbevölkerung somit über Jahrzehnte hinweg leicht wachsen und langsamer als in anderen Weltregionen altern.
Amerikaner arbeiten viel
Eine wichtige Basis für den Reichtum Amerikas und die Kraft seiner führenden Unternehmen ist die Arbeitsproduktivität: Einerseits leisten Amerikaner pro Arbeitsstunde ähnlich viel wie die Beschäftigten in den effizientesten europäischen Ländern wie etwa der Schweiz. In den USA ist die Mehrheit der führenden Universitäten der Welt angesiedelt; auch der durchschnittliche Bildungsgrad ist hoch.
Die Unternehmen investieren zudem stark in die Zukunft, was sich zurzeit anschaulich bei den vielen KI-Daten-Centern zeigt, die überall im Land aus dem Boden schiessen. Der Staat legt ihnen beim Investitionsentscheid, im internationalen Vergleich, wenig Steine in den Weg.
Die Arbeitsleistung pro Stunde kommt andererseits nur zum Tragen, wenn genügend Stunden gearbeitet wird. Das ist in den USA der Fall. Die Amerikaner arbeiten deutlich mehr als praktisch alle Europäer – daran hat sich, dem hohen durchschnittlichen Wohlstand des Landes zum Trotz, wenig geändert.
Ein dritter Vorteil der USA ist die relative geopolitische Stabilität. Die grössten Krisen der Welt finden fernab von den Grenzen des Landes statt. Die amerikanische Wirtschaft ist schon wegen ihrer Grösse weniger vom Aussenhandel abhängig als kleinere Länder. Weil sie sehr diversifiziert ist – zu den grössten Technologie- und Finanzunternehmen der Welt gesellen sich weltweit führende Pharma- und Energieunternehmen, Maschinenbauer, Versicherungen oder Nahrungsmittelkonzerne –, ist sie zudem weniger anfällig für branchenspezifische Schocks, wie sie zuletzt die deutsche Chemie-Industrie nach dem Wegfall des billigen Erdgases aus Russland erlebt hat.
Hinzu kommt, wie Mossavar-Rahmani ebenfalls ausführt, dass die USA viele Rohstoffe selbst fördern, die andere Wirtschaftsmächte wie Japan, China oder Europa importieren müssen. Das betrifft insbesondere Agrarprodukte, aber auch wichtige Energieträger wie Öl und Erdgas. Während sich Europa im Winter 2022 davor fürchtete, dass Russland den Gas-Hahn abdrehen würde und die Wohnungen kalt blieben, schlug der Gaspreis in den USA nicht derart stark aus.
Zwar nennt auch Goldman Sachs einen möglichen Krieg um Taiwan als wichtiges geopolitisches Risiko für die Vereinigten Staaten; vor allem der Ausfall des weltweit führenden Chipherstellers TSMC würde die Halbleiterindustrie in den USA – und in der Folge die Technologiebranche insgesamt – stark in Mitleidenschaft ziehen.
Die Probleme sind da, aber noch nicht unmittelbar
Allen langfristigen Vorteilen zum Trotz lassen sich zwei Argumente der USA-Pessimisten nicht leicht beiseitewischen.
Donald Trump könnte eine chaotische und konfliktgeladene Präsidentschaft einleiten, die den Welthandel zum Erliegen bringt und auch die Perspektive der amerikanischen Firmen mittelfristig eintrübt.
Zudem könnte die hohe Staatsverschuldung das Land in ernste Probleme bringen; insbesondere jetzt, da der Schuldendienst wegen der hohen Zinsen sehr teuer geworden ist.
Was Trumps Regierung anbelangt, vertraut Mossavar-Rahmani indes auf die Checks and Balances im amerikanischen System. In Bezug auf die Schulden argumentiert sie ähnlich wie viele Ökonomen: Der jetzige Schuldenstand sei noch nicht kritisch. Sie verweist auf eine Reihe von Studien, die den «Kipppunkt» für die USA, an dem eine Staatsschuldenkrise einsetzen könnte, deutlich höher legen. Aber letztlich sollten die USA diese Limiten nicht ausreizen. Eine baldige Trendumkehr würde die Gemüter beruhigen.