Die Aktien des Darmstädter Dax-Unternehmens sind heute dank des Hypes um Künstliche Intelligenz um rund 7% gestiegen. Dabei musste Merck die mittelfristigen Ziele in den Kernbereichen Life Science und Healthcare eindampfen.
Geschätzte Leserin, geschätzter Leser
Das Geschäft des deutschen Merck-Konzerns, nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen US-Unternehmen, besteht aus drei Bereichen: Life Science, Healthcare und Electronics.
In der Elektroniksparte mit Halbleitermaterialen traut sich Merck nun mittelfristig eine deutliche Steigerung des Umsatzwachstums zu: 5 bis 9% sollen es sein, hiess es auf dem Kapitalmarkttag des Dax-Unternehmens am Donnerstag (17. Oktober). Bisher hatten die Darmstädter 3 bis 6% angepeilt. Die Sparte habe sich zu einem «Pureplay», einem reinen Spezialunternehmen im Bereich Semiconductor und Display Solutions entwickelt und profitiere vom KI-Boom. Soweit die guten Nachrichten.
Doch der Geschäftsbereich war im ersten Halbjahr gerade einmal für 18% des Gesamtumsatzes und 16% des Betriebsgewinns auf Stufe Ebitda verantwortlich. Mit anderen Worten: 82% des Umsatzes und 84% des Gewinns kommen aus den anderen beiden Bereichen – und zwar zuletzt ungefähr zu gleichen Teilen.
In den beiden grossen Sparten haben sich die Aussichten dagegen etwas eingetrübt. Im Laborgeschäft namens Life Science erwartet Merck mittelfristig nur noch ein Wachstum von 7 bis 9%, nach zuvor 7 bis 10%. Hauptgrund für die Anpassung ist eine aktualisierte Einschätzung der Entwicklung in China. Das war absehbar, angesichts der Wirtschaftsschwäche der Volksrepublik.
Ebenso absehbar war die Anpassung im Bereich Healthcare, also dem Pharmageschäft, wo Merck nun mittelfristig mit einem «leichten Wachstum» rechnet (zuvor: «Wachstum im mittleren einstelligen Prozentbereich»). Ein wichtiger Grund für die Verschlechterung der Aussichten: Ende Juni mussten die Darmstädter ihre Hoffnungen auf das Krebsmittel Xevinapant und im Dezember vergangenen Jahres auf das Mittel Evobrutinib gegen Multiple Sklerose begraben.
Drei Blockbuster-Kandidaten
Jetzt ruhen in den Bereichen Onkologie sowie Neurologie und Immunologie die Hoffnungen vor allem auf drei Kandidaten. Da sind zum einen die Cladribin-Kapseln zur Behandlung der neurologischen Erkrankung Myasthenia gravis. Die klinische Phase-III-Studie dazu läuft seit Juni.
Zweiter Hoffnungsträger ist Pimicotinib zur Behandlung gutartiger Tumore der Gelenke. Die Ergebnisse der Phase-III-Studie erwartet Merck noch in diesem Jahr. Hier sitzt allerdings Entwickler Abbisko Therapeutics aus China mit im Boot. Für Enpatoran, das zur Behandlung der Autoimmunkrankheit Lupus erythematodes entwickelt wird, sollen die Resultate der Phase-II-Studie, bei denen der Wirkstoff erstmals an Patienten getestet wird, Anfang 2025 vorliegen.
Das Jahr 2023 bezeichnet Merck gerne als Übergangsjahr, nun setze die Trendwende ein. «Wir haben uns vorgenommen, 2024 wieder zu wachsen – und dieses Wachstum zeigt sich bereits», sagt Belén Garijo.
Die Merck-Chefin hat die Prognose für 2024 bestätigt, die der Konzern zur Bekanntgabe der Zweitquartalszahlen im August bereits leicht angehoben hatte. Demnach soll der Umsatz zwischen 20,7 Mrd. und 22,1 Mrd. € liegen – das entspricht einem Anstieg von 2 bis 5%. Den Betriebsgewinn auf Stufe bereinigtes Ebitda taxiert Merck auf 5,8 Mrd. bis 6,4 Mrd. €, ein Plus von 4 bis 10%. Als Gewinn je Aktie peilt Garijo für das laufende Jahr 8.20 bis 9.30 € an. Die Konsensschätzungen der von Bloomberg erfassten Analysten liegt bei 8.85 €. Auch den Umsatz (21,4 Mrd. €) und das Ebitda (6,1 Mrd. €) erwarten die Analysten in etwa in der Mitte der Spannen.
Hohe Investitionen noch bis einschliesslich 2025
Derzeit blickt Merck auf Investitionsausgaben (Capex) in Höhe von 1,6 Mrd. bis 1,8 Mrd. €, um Kapazitäten in der Forschung und Entwicklung sowie der Produktion zu erhöhen. Ab 2026 sollen sich diese «auf einem etwas niedrigeren Niveau normalisieren», heisst es aus Darmstadt. Noch, so scheint es, kann die Ernte nicht eingefahren werden. Als Ebitda-Marge hat man 28% im Visier, das wäre in etwa der langfristige Durchschnittswert.
Ende Juli hat Merck das Unternehmen Mirus Bio für umgerechnet 550 Mio. € übernommen. Die Spezialität der Amerikaner sind Transfektionsreagenzien. Diese helfen, genetisches Material in Zellen zu übertragen und werden zur Herstellung von viralen Vektoren für Zell- und Gentherapien benötigt. Merck beabsichtigt zudem, den französischen Anbieter von Mess- und Prüfgeräten für die Halbleiterindustrie, Unity-SC, für 155 Mio. € zu übernehmen. Dieser Deal soll bis Ende des Jahres in trockenen Tüchern sein.
Freier Cashflow niedriger als im historischen Mittel
Die Freie-Cashflow-Marge der Darmstädter lag 2023 bei 10%. Im Mittel der vergangenen 15 Jahre waren es 14%. Mittelfristig soll sie also wieder steigen. Für Finanzchefin Helene von Roeder ist der Wert entscheidend, bestimmt er doch darüber, wie gut die Kasse für mögliche Übernahmen gefüllt ist. «M&A bleibt eine wichtige Priorität für Merck. Unser Grundsatz ist und bleibt: Das richtige Ziel zum richtigen Zeitpunkt zum richtigen Preis», sagt denn auch CEO Garijo.
Richtiger Zeitpunkt und richtiger Preis: Diese Kriterien gelten für Anleger gleichermassen, ein Kauf drängt sich derzeit nicht auf. Zwar wird an der Börse die Zukunft gehandelt, doch Merck befindet sich noch im Übergang, künftiges Wachstum braucht seine Zeit, und KI ist bei Merck bislang ein Nebenschauplatz.
Ansonsten gab es auf dem Kapitalmarkttag wenig Neues. Parallel verbreitete allerdings der Pharma- und Laborzulieferer Sartorius Optimismus. Seine Kunden hätten den Lagerabbau weitgehend abschlossen. Das katapultierte die wie fast immer nicht wirklich günstig bewertete Aktie um rund 15% nach oben.
Vielleicht war es bei Merck also nicht nur KI-Fantasie, die die Aktie beflügelte, sondern auch eine Sogwirkung von Sartorius, die Anleger in den Gesundheitssektor lockte. Alles andere wäre in meinen Augen, angesichts der Bedeutung des Halbleiter-Business für Merck, übertrieben.
Freundlich grüsst im Namen von Mr Market
Ulrich W. Hanke