Fast 5000 Menschen leben im Berliner «Ankunftszentrum Tegel». Die Einrichtung verschlingt 30 Millionen Euro pro Monat. Zufrieden ist dort trotzdem niemand.
«Ihr Flug wurde gestrichen? Dies sind Ihre Rechte als Fluggast.» So steht es noch immer auf einem ausgeblichenen Plakat an einer Wand im ehemaligen Westberliner Flughafen Tegel. Doch hier beginnen keine Reisen mehr, nicht zu geschäftlichen Meetings in Köln oder Zürich, nicht zu beliebten Reisezielen in Spanien oder in Griechenland.
Tegel ist ein Ort des blossen Ankommens geworden, wobei «Ankommen» im weitesten denkbaren Sinne verstanden werden muss. Als Russland im Februar 2022 die Ukraine überfiel und wenig später die ersten Flüchtlinge in Deutschland, vor allem in der Hauptstadt Berlin eintrafen, wurde auf dem stillgelegten Flughafengelände innert weniger Wochen das «Ankunftszentrum Tegel» aus dem Boden gestampft.
Die Zeltstadt war als Erstaufnahmeeinrichtung gedacht, in der die Geflüchteten höchstens ein paar Tage verbringen sollten, bis sie registriert wären und anderswo vernünftig untergebracht werden könnten. Aber es gibt in Berlin nur wenig «anderswo». Wohnungen sind knapp, die Mieten exorbitant.
Inzwischen leben fast 5000 Frauen, Männer und Kinder in den Tegel-Zelten – rund 4000 Ukrainer, knapp 1000 Asylsuchende aus Ländern wie der Türkei, aus Afghanistan, dem Irak, Georgien, Vietnam. Die durchschnittliche Verweildauer in den primitiven Notunterkünften liegt bei 200 Tagen. Einige Menschen sind aber schon seit zwei Jahren hier. Es ist das grösste Flüchtlingslager in Deutschland.
Früher musste sich der Fluggast auf regen Verkehr einstellen, wenn er mit dem Taxi oder dem eigenen Pkw von der Berliner Stadtautobahn A 100 die Abzweigung nach Tegel nahm. Die Seitenstreifen waren vollgestellt mit Autos, deren Besitzer die hohen Parkgebühren am Flughafen scheuten.
Es beginnt eine Zeit des Wartens
Heute liegt, aus der Halbdistanz wahrgenommen, eine fast gespenstische Stille über dem Gelände. Kein Fluglärm von Starts und Landungen, nur wenige Fahrzeuge. Das Grün an den Strassen, an den Parkplätzen und am Rollfeld wuchert üppig und beginnt, den Beton zu zerbröseln.
Der Weg eines ukrainischen Kriegsflüchtlings in sein neues Übergangsleben beginnt vor der früheren Abfertigungshalle der kollabierten Billigfluglinie Air Berlin. Im Zehn-Minuten-Takt kommen hier Shuttlebusse an. Sie bringen Neuankömmlinge aus der Innenstadt, vom Hauptbahnhof. Im Terminal sitzen diese Neuen dann neben ihren unförmigen Gepäckstücken. Was nimmt man mit auf eine Flucht? Was ist unentbehrlich? Was muss man schweren Herzens zurücklassen? Viele ältere Menschen sind zu sehen, viele Personen, die einen Rollstuhl brauchen oder am Rollator gehen. Tegel hat eine improvisierte Pflegestation für Demente, für Dialysepatienten, für Bombenopfer ohne Beine.
Es beginnt nun eine Zeit des Wartens. Des Wartens, zunächst einmal, auf eine Art umgekehrten Check-in, der zum Bleiben berechtigt, aber nicht zum Weiterkommen. Mitarbeiter des Berliner Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) führen Aufnahmegespräche mit den Ukrainern: Wer stammt woher? Wer ist verwandt? Wer hat welche Papiere? Biometrische Fotos werden gemacht, Fingerabdrücke genommen. Nach der Flüchtlingskrise von 2015, die ein organisatorisches Desaster war, will sich der deutsche Staat nicht mehr vorwerfen lassen, er wisse nicht, wer ins Land gelangt.
In Tegel weiss man: Hierher kommen nicht die Bestqualifizierten, nicht die Fremdsprachenkundigen, nicht die jungen, digitalaffinen Ukrainer. Die haben oft direkt andere Unterkünfte gefunden, bei Verwandten, bei Freunden, bei Sportkameraden, bei Erasmus-Kommilitonen. Hierher, nach Tegel, kommen Menschen, die nur wegwollten, wegmussten, die in ihren zerstörten Städten und Dörfern nicht bleiben konnten. Viele von ihnen sind einfach nur Flüchtlinge, keine Bereicherung für den Arbeitsmarkt. Die deutsche Gesellschaft wird dazu eine Haltung entwickeln müssen.
Der wirkliche Moment des Ankommens – vielleicht besser: der Schock des Hierseins – tritt ein, wenn die Ukrainer begreifen, wo sie künftig wohnen werden. Nämlich in aneinandergereihten 10- oder 14-Bett-Verschlägen, in denen kaum Platz ist für die Koffer, kaum Raum, um sich umzudrehen. Die maximal 35 Quadratmeter grossen Wohnwaben haben Wände aus Kunststoff und sind nach oben offen. Man hört – alles. Es ist laut.
Es gibt weder Ruhe noch Privatsphäre
Die Lüftungsanlage vibriert, die ständig überlasteten Waschmaschinen schleudern im Hintergrund. Kinder rasen mit Rollern und Inline-Skates durch die Gänge und kreischen. In den Waben gibt es keine Ruhe und keinerlei Privatsphäre.
Eine allein geflüchtete siebzigjährige Frau kann sich mit drei fremden jungen Männern und einer Grossfamilie in einem Schlafbereich wiederfinden. Und die dann eben sehen, wie sie sich umzieht, morgens und abends, ohne vor Scham zu sterben.
Vorhänge oder dergleichen als Sichtschutz zwischen den Betten sind nicht erlaubt: Brandgefahr. Die besteht allerdings auch ohne Raumteiler. Im vergangenen März brannte eine Halle komplett ab. Die Flammen vernichteten alles, was die Bewohner aus der Ukraine hatten mitbringen können.
Hygienisch ist die Situation in Tegel schwierig. Waschbecken sind oft schmutzig, Duschkabinen verdreckt, defekt oder beides. Die Toiletten sind häufig verstopft, weil unbeaufsichtigte Kinder Berge von Toilettenpapier hineinwerfen – oder aus anderen Gründen. Bis zur professionellen Reinigung werden die Anlagen dann stunden- oder tagelang geschlossen, was die Lage nicht besser macht.
Die reflexartige Frage an dieser Stelle des Lagerrundgangs lautet: Warum können die Flüchtlinge denn nicht selbst putzen? Deutsche Steuerzahler tun das zu Hause doch auch. «Das entspricht aber nicht unseren Grundsätzen», sagt Kleo Tümmler vom Deutschen Roten Kreuz (DRK): «Wer hier lebt, sollte nicht zugleich hier arbeiten. Nach unserer Erfahrung führt das sonst fast zwangsläufig zu Konfliktsituationen, schafft ungute Hierarchien, verursacht Probleme beim Datenschutz.»
Tümmler ist Betriebsleiterin des DRK in Tegel. Auf der Verwaltungsseite ist das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten verantwortlich für die Organisation des Ankunftszentrums. «Jenseits des Schreibtischs», so formuliert es Tümmler, «arbeiten Hilfsorganisationen als Dienstleister: wir vom Roten Kreuz, der Arbeiter-Samariter-Bund, der Malteser Hilfsdienst, die Johanniter. Wir hatten schon Erfahrung mit der Einrichtung der Impfzentren während der Corona-Zeit, wir konnten in einer Grosslage schnell reagieren.»
«Im Grunde führen wir hier ein gigantisches Hotel»
Die staatsunabhängigen Hilfsorganisationen sind zuständig für die Unterbringung, die soziale und medizinische Betreuung der Flüchtlinge, für die Reinigung der Gebäude und Zelte, für Bettwäsche und Handtücher, für das Catering mit drei Mahlzeiten am Tag. «Im Grunde führen wir hier einen gigantischen Hotelbetrieb», sagt Tümmler.
Dieser Betrieb ist allerdings unfassbar teuer. Pro Flüchtling kostet der Aufenthalt im Ankunftszentrum Tegel laut Auskunft des LAF gut 200 Euro – pro Tag. Das sind 6000 Euro pro Person und Monat. Für alle 5000 Menschen zusammen: gut 30 Millionen Euro im Monat.
Und es handelt sich hier eben nicht um ein gehobenes Mittelklassehotel, sondern um eine grenzwertige Notunterbringung. Selbst wenn man hohe Kosten für die Errichtung des Lagers, für Wasser, Strom, Heizung und Lüftung, Verpflegung und die etwa tausend Mitarbeiter von Security, Catering, Reinigungsfirmen und sozialen Diensten veranschlagt, fragt man sich, wo das viele Geld bleibt. Jetzt sollen hier noch einmal ungefähr tausend Plätze dazukommen. «Die Einrichtung wird grösser und damit dann auch teurer», sagt Tümmler.
Dass die Geflüchteten ihre kostspielige Unterkunft nicht als Segen, sondern eher als Katastrophe empfinden, wird deutlich, wenn man sich in irgendeinem der baugleichen Zelthallen in den Kantinenbereich setzt. Jede Person, die nur halbwegs offiziell aussieht, wird dort sofort überrannt von verzweifelten Menschen, die Anliegen haben, Beschwerden – und Fragen, Fragen, Fragen.
Ein Thema, das wirklich alle bewegt, ist das Essen. Es sei grauenhaft, sagt Sergei. Sagt Anatoli. Sagt Prudka. Sagt Aleksandra, sagt Vladislav. Zu salzig. Zu stark gepfeffert. Zu essigsauer. Kaum Vitamine. Das Essen mache krank. «Warum dürfen wir nicht selbst kochen?», fragt die 60-jährige Lilia Kopilenko, die in der Ukraine eine hauswirtschaftliche Ausbildung absolviert hat.
«Man kann sich auch im Gefängnis einrichten»
«Unser Caterer würde sogar eine Grossküche vor Ort einrichten», sagt Kleo Tümmler: «Für Frische und Qualität des Essens wäre das sicher gut. Aber uns fehlen der entsprechende Stromanschluss, Wasser und vor allem die Fläche.» Angesichts der Tatsache, dass sich das Ankunftszentrum auf dem Gelände eines ehemaligen internationalen Flughafens befindet und dass es ein monatliches Budget von 30 Millionen Euro verschlingt, wirkt diese Begründung ein wenig rätselhaft.
Ist es undankbar von den ukrainischen Flüchtlingen, am Essen herumzumäkeln? Jedenfalls ist es absolut typisch, dass die Insassen totaler Organisationen – beim Militär, in Spitälern, in Internaten – gedanklich um dieses Thema kreisen: Essen ist ganz nah am Überleben.
Man könne sich auch im Gefängnis einrichten, sagen die Geflüchteten. Wir sitzen und warten, sagen sie. Wir verstehen die Unterlagen nicht, die wir ausfüllen müssen. Job-Center. Ausländeramt. Sozialamt. Krankenkasse. Wir wollen doch nur arbeiten. Wir brauchen Deutschunterricht. Wir bekommen Deutschunterricht von Arabern, die kein Ukrainisch und auch kein Russisch sprechen. Wir bekommen gar keinen Deutschunterricht. Wir werden krank, und die Ärzte sagen uns: Trinkt Wasser! Die Sicherheitsleute essen hier nicht. Es gibt Plätze in Hostels, Plätze in Hotels, billige Plätze, aber Flüchtlinge aus Tegel kriegen sie nicht. Wir dürfen hier nicht ausziehen. Wir schreiben Beschwerden, die keiner liest.
«Ich komme aus der Hölle, und jetzt bin ich wieder in einer Art Hölle gelandet», sagt eine 77-jährige Frau aus der ostukrainischen Stadt Bachmut.
Fluggastrechte gelten hier nicht
«Du kannst es hier eigentlich nur mit Beruhigungsmitteln aushalten», sagt die 20-jährige Köchin Aleksandra Polischchuk. Mit ihrem Mann Vladislav, einem Programmierer, lebt sie seit Februar in Tegel. Also seit fast fünf Monaten. Die beiden gehören zu denjenigen, die bei dem Brand im März alles verloren haben: Pässe. Führerscheine. Laptops. Das bedeutet noch mehr Kilometer, noch mehr Monate im bürokratischen Hindernislauf. Ersetzt werde ihnen der Schaden nicht, sagen sie, niemand sei zuständig. Fluggastrechte gelten hier nicht.
Das junge Paar kommt von der Krim. Sie glauben nicht, dass eine Rückkehr in ihre Heimat jemals möglich werden wird. Sie wollen erst einmal nur eins: raus aus dem Lager. Sie wollen arbeiten. Vladislav und Aleksandra sind heftig tätowiert. Nicht jeder deutsche Chef mag das. Aber hier, in dieser provisorischen Wahnsinnskleinstadt Tegel, in dieser unerträglich lauten Stille, in diesem furchtbaren Zwischenreich, ist man irgendwie froh, dass sie wenigstens ihre Haut retten konnten. Das Einzige von zu Hause, was ihnen niemand nehmen kann.








