Als 2022 der Angriffskrieg beginnt, müssen die Ukrainer über Nacht entscheiden, ob sie fliehen oder sich der russischen Armee entgegenstellen. Fotograf Alexander Chekmenev hält die Ängste seiner Landsleute und ihren Willen zum Widerstand fest.
Kiew wird am 24. Februar 2022 von heftigen Raketenangriffen erschüttert. Der Krieg beginnt. Niemand weiss, ob und wann die Russen die Stadt einnehmen werden. Von einem Tag auf den anderen ist nichts mehr wie zuvor, weitreichende Entscheidungen müssen in Sekundenschnelle gefällt werden.
Auch der Fotograf Alexander Chekmenev muss sich entscheiden: Nachdem er seine Familie in Sicherheit gebracht hat, kehrt er nach Kiew zurück, um sein Heimatland im Kampf gegen die russischen Invasoren zu unterstützen.
Er tut, was er am besten kann: Er dokumentiert mit der Kamera, wie sich seine Stadt verändert und wie seine Mitbürger mit der neuen Realität umgehen. Es entstehen über hundert Bilder und Geschichten – Wir zeigen eine Auswahl.
«Mein ganzes Leben lang habe ich im Stadtzentrum gelebt, und jetzt bleibe ich in Kiew, denn man verlässt nicht den, den man liebt.»
Als die ersten Luftschutzsirenen Ende Februar 2022 ertönen, eilen Tasia Klotschko, 33, und ihr Vater Juri, 58, nicht in die unterirdischen Schutzräume. Sie wollen in der Lage sein, anderen Menschen bei eventuellen Einschlägen schnell zu helfen. Tasia leitet zu dem Zeitpunkt eine Vereinigung von Kleinproduzenten und Distributoren von Treibstoff und organisiert später Diesel für die Armee und die Rettungsdienste. Ausserdem arbeitet sie daran, die Einfuhr von Treibstoff aus dem Westen zu organisieren, um die Hauptstadt für den Widerstand fit zu machen. «Mein ganzes Leben lang habe ich im Stadtzentrum gelebt», sagt sie. «Und jetzt bleibe ich in Kiew, denn man verlässt nicht den, den man liebt.» (Kiew, 10. 3. 2022)
«Du stehst in einer langen Schlange und weisst, sie können dich nicht wirklich gebrauchen.»
Der 36-jährige Boris Jastrub ist mit seiner Frau Lilia – beide arbeiten als Tänzer bei der ukrainischen Nationaloper – auf Tournee in Frankreich, als Russland einmarschiert. Sie machen sich sofort auf den Rückweg in die Ukraine, um ihren acht Monate alten Sohn und Lilias Eltern, die sich um das Kind kümmern, ausser Landes zu bringen. Als seine Familie in der Nähe von Rumänien in Sicherheit ist, fährt er zurück nach Kiew, wo er sich den sogenannten Territorialen Verteidigungskräften anschliessen will, um gegen die russischen Invasoren zu kämpfen. «Du stehst in einer langen Schlange und weisst, sie können dich nicht wirklich gebrauchen», sagt er über die militärischen Rekrutierungszentren, die mit Freiwilligen überflutet werden. Jastrub, der seit seiner frühen Kindheit tanzt, hat keine militärische Erfahrung. (Kiew, 12. 3. 2022)
«Die Nato versteckt sich hinter den Leichen ukrainischer Soldaten und Zivilisten.»
Der Krieg mit Russland hat die Familie der 58-jährigen Waleria Hanitsch schon vor der jüngsten Invasion gespalten. Ihre ältere Tochter lebt in Donezk, wo die vom Kreml unterstützten Separatisten seit 2014 gegen die Ukraine kämpfen. Ihre Tochter glaubt den russischen Staatsmedien, die dort allgegenwärtig sind. Sie sei keine Putin-Anhängerin, sagt Hanitsch, aber sie unterstütze Russland und glaube nicht, dass der Krieg so sei, wie ihre Mutter ihn selbst erlebe – «es ist einfach eine Gehirnwäsche». Hanitsch selbst wurde in Russland, in der Stadt Ufa, geboren, lebt aber seit langem in der Ukraine, wo sie zuletzt als Kassiererin in einem Supermarkt arbeitete. Sie ist herzkrank und fühlt sich zu schwach, um jedes Mal Schutz zu suchen, wenn die Luftschutzsirenen ertönen. Deshalb lebt sie für Wochen in einer U-Bahn-Station. Sie spricht mit Abscheu über die angreifende russische Armee. «Sie sind unmenschlich», sagt sie über deren Soldaten. «So benehmen sich Menschen nicht.» Aber auch über die westlichen Militärs äussert sie sich kritisch. «Die Nato», sagt sie, «versteckt sich hinter den Leichen ukrainischer Soldaten und Zivilisten.» (Kiew, 13. 3. 2022)
«Ich wusste einfach nicht, was passiert, ich wusste nur ganz genau, dass ich hier sein muss und dass ich mein Land verteidigen muss.»
Als Russland einmarschiert, ist der 30-jährige Maxim Skubenko Geschäftsführer von Vox Ukraine, einem unabhängigen Analysedienst in Kiew. Er legt seine Arbeit nieder und schliesst sich den Territorialen Verteidigungskräften an. Er hat keine militärische oder waffentechnische Vorerfahrung. Ein Ausbilder bringt ihm und den anderen Freiwilligen in aller Eile bei, wie man mit einem Gewehr umgeht, wie man Panzerabwehrraketen abfeuert und wie man mit einem Messer kämpft. Angesichts des Herannahens der russischen Truppen ist er sich nicht sicher, ob er geeignet ist für seine unerwartete neue Rolle als Kämpfer: «Ich wusste einfach nicht, was passiert», sagt er. «Ich wusste nur ganz genau, dass ich hier sein muss und dass ich mein Land verteidigen muss.» (Kiew, 9. 3. 2022)
«Natürlich möchte ich meine Eltern, meinen Bruder, meine Oma und meinen Opa sehen, aber ich weiss, dass ich hier am nützlichsten bin.»
Die 21-jährige Irina Schirotschenko ist Studentin im fünften Jahr eines sechsjährigen Physiologie-Studiengangs in Kiew. Als ihr Institut wegen der russischen Angriffe auf die Stadt den Unterricht aussetzt, arbeitet sie freiwillig für das Rote Kreuz. Sie entscheidet sich, weiterhin in ihrer Wohnung im Stadtzentrum zu übernachten, und beginnt sich an Bedingungen zu gewöhnen, die vor Wochen noch unvorstellbar waren. «Wenn wir den Luftalarm hörten, sind wir am Anfang jedes Mal in den Keller gegangen», sagt Schirotschenko. «Später hatten wir so viel zu tun, dass wir dafür keine Zeit mehr hatten.» Die in Cherson aufgewachsene Irina ruft jeden Tag bei ihrer Familie zu Hause an. «Natürlich möchte ich meine Eltern, meinen Bruder, meine Oma und meinen Opa sehen», sagt sie. «Aber ich weiss, dass ich hier am nützlichsten bin.» (Kiew, 11. 3. 2022)
«‹Habt ihr keine Angst vor dem Tod?›, fragte ich sie. ‹Doch, wir haben Angst›, antworteten sie. ‹Dann ergebt euch›, sagte ich zu ihnen.»
Der 68-jährige Kostjantin Momotow sprach mit einigen der jungen russischen Soldaten, die ab Ende Februar Butscha besetzten, als sie eines Tages auf seinen Hof kamen. «‹Habt ihr keine Angst vor dem Tod?›, fragte ich sie. ‹Doch, wir haben Angst›, antworteten sie. ‹Dann ergebt euch›, sagte ich zu ihnen. ‹Das können wir nicht›, sagten sie, kurz bevor ihr Offizier ihnen befahl, in die Unterkünfte zurückzukehren.» Momotow wohnt in der Woksalna-Strasse, wo am 27. Februar ein russischer Fahrzeugkonvoi von ukrainischen Truppen zerstört wurde. Die Bilder der ausgebrannten Fahrzeuge gingen um die Welt. Wie durch ein Wunder wird Momotows Haus nicht zerstört, aber er hat wochenlang keinen Strom und keine Heizung und kocht sein Essen vor dem Haus auf offenem Feuer. Während der weiteren Besetzung verüben russische Soldaten Massaker an der Zivilbevölkerung in Butscha und töten auch den Nachbarn von Momotow in seinem Auto, das im Hof steht. (Butscha, 31. 5. 2022)
«Ich schlief noch, als meine Mutter und mein Grossvater anriefen und mir sagten, dass der Krieg begonnen habe.»
Am Vorabend der russischen Invasion blieb die 19-jährige Nastia Tschmizjuk lange auf. «Ich schlief noch, als meine Mutter und mein Grossvater anriefen und mir sagten, dass der Krieg begonnen habe», erzählt sie. «Ich weinte.» Die ersten sechs Tage des Krieges verbrachte Tschmizjuk damit, die Nachrichten zu verfolgen, und fühlte sich zunehmend hilflos, bis sie beschloss, etwas zu unternehmen. «Ich ging als Freiwillige zum Bahnhof und rief in den sozialen Netzwerken dazu auf, ein Team zu bilden», erzählt sie. «Innerhalb von eineinhalb Minuten riefen mich die Leute an. Ich hatte keine Ahnung, dass so viele Menschen helfen wollten.» (Kiew, 21. 3. 2022)
«Ich bin ein reicher Mann, weil ich immer Milch von meinen Ziegen bekomme und einen Sohn habe, der mir hilft.»
Der 82-jährige Boris Hawriljuk verbrachte seine Kindheit während des Zweiten Weltkriegs unter deutscher Besetzung in der Nähe von Kiew. Jetzt, im hohen Alter, erlebt er wieder eine Besetzung, nur diesmal unter den Russen. Er blieb in Irpin, weil er seine Ziegen nicht verlassen konnte. Trotz der Situation sagt Boris: «Ich bin ein reicher Mann, weil ich immer Milch von meinen Ziegen bekomme und einen Sohn habe, der mir hilft.» Ausserdem wurde sein Haus nicht zerstört wie jene von vielen seiner Nachbarn. (Irpin, 22. 5. 2022)
«Ich betete, dass sie mich nicht töten würden.»
Die 65-jährige Raisa Korsch war zu Hause in dem Dorf Lissowe, etwa 110 Kilometer nordwestlich von Kiew, als drei gepanzerte Fahrzeuge mit etwa dreissig russischen Soldaten auf ihren Hof fuhren. Sie plünderten und brannten andere Häuser im Dorf nieder. Korsch flehte sie an, ihr Haus zu verschonen. Drei der Soldaten kamen herein und assen die Sirniki (Hüttenkäsepfannkuchen), die sie gerade gekocht hatte, zertrümmerten ihre Möbel und zerschossen ihren Fernseher mit einem Sturmgewehr. «Ich betete, dass sie mich nicht töten würden.» Dann traf sie etwas von hinten am Arm – ein Soldat hatte mit einem Bajonett auf sie eingestochen. Dann schlug er ihr auf den Kopf und versuchte, sie dazu zu bringen, ihm die Schlüssel für ihr Quad zu geben. Da sie die Schlüssel nicht hatte, wurde sie drei Stunden lang verprügelt. Heute kann Korsch ihre linke Hand nicht mehr benutzen. (Lissowe, 1. 6. 2022)
«Das einzige Geschoss, das direkt auf dem Haus landete, explodierte nicht – das ist das Werk Gottes.»
Der 46-jährige Mikola Wiser ist Pfarrer der St.-Johannes-Kirche in Moschtschun, einem Dorf nördlich von Kiew. «Am 24. Februar 2022 hörten wir starke Explosionen – mehrere Granaten schlugen in die Kirche ein, und Splitter durchschlugen die Wände», sagt er und fügt hinzu, dass aber zum Glück nur eine Ikone beschädigt worden sei. Um sein Haus herum schlugen mehrere Granaten ein und liessen Krater zurück. «Das einzige Geschoss, das direkt auf dem Haus landete, explodierte nicht – das ist das Werk Gottes», sagt er. Mikola Wiser begrub selbst zehn Zivilisten, die von den russischen Besetzern getötet worden waren. (Moschtschun, 4. 5. 2022)
«Jeden Tag dachten wir, sie würden uns herausholen und erschiessen.»
Natalia Haidus, 46, beschreibt die Zeit zu Beginn des Kriegs, als zwei russische Panzer vor ihrem Haus vorfahren und russische Soldaten sie mit vorgehaltener Waffe aus dem Keller zerren und in den Schulkeller bringen. «Das jüngste Kind, ein Mädchen, war einen Monat alt», sagt sie. «Im grössten Raum sassen 136 Menschen. Wir durften einmal am Tag auf die Toilette gehen, oder die Toilette wurde durch einen Eimer in unserem Zimmer ersetzt. Wir wurden gezwungen, niederzuknien und die russische Nationalhymne zu singen.» Haidus erinnert sich, dass einige der Soldaten nicht wussten, wie man einen Gasherd ausschaltet, und einfach die Flammen ausbliesen. «Jeden Tag dachten wir, sie würden uns herausholen und erschiessen», sagt sie. (Jahidne, 24. 5. 2022)
Buch: «Faces of War», Kerber-Verlag, 232 S., 55 Fr.
Fotograf: Alexander Chekmenev, geboren 1969 in Luhansk, veröffentlichte zahlreiche Bücher zur Transformation der Ukraine.