Wenn die EU vom Agrarfreihandel mit der Ukraine abrückt, verliert sie das Gesicht und schadet dem kriegsgeplagten Land. Seit Wochen haben die Mitgliedsländer daher um eine Lösung gerungen.
Die Institutionen der EU beissen sich an der Ukraine gerade die Zähne aus. Das Land ist zu gross, und seine Probleme sind zu gravierend, als dass der uneinige Staatenbund zu raschen Lösungen käme.
Ein ständiges Hin und Her herrscht in der Frage der Landwirtschaft. Die Mitgliedsländer haben grosse Mühe, sich hier auf ein gemeinsames Vorgehen zu einigen. Einerseits wissen sie, dass das kriegsgeplagte Land dringend auf die Devisen aus dem Agrargeschäft angewiesen ist, um den Krieg mitzufinanzieren. Landwirtschaftserzeugnisse sind das wichtigste Ausfuhrgut der Ukraine.
Anderseits beklagen sich die Bauern in einigen europäischen Ländern, dass die ukrainischen Landwirte die europäischen Märkte mit ihren Produkten überfluteten und die Preise kaputtmachten. Am heftigsten protestieren die polnischen Bauern dagegen. Im Fokus steht der Weizen.
Die Ukraine-Frage spaltet die EU
Die Politiker können die Proteste von Europas Bauern nicht negieren. Anfang Juni finden die Wahlen zum EU-Parlament statt. Die Landwirte geniessen bei der Bevölkerung immer noch grosse Sympathien. Die Politiker der Mitteparteien befürchten daher, dass sie Stimmen verlieren, weil Wähler zu EU-kritischen Parteien überlaufen könnten.
In der Nacht auf Dienstag haben sich EU-Parlamentarier und Vertreter der Mitgliedsländer auf einen neuerlichen Kompromiss geeinigt, wie sie mit den Agrarimporten umgehen wollen. Auf gewissen Produkten wie Geflügel, Eiern oder Honig soll es wieder Zölle geben, wenn die Einfuhren den Durchschnitt des Zeitraums von Mitte 2021 bis 2023 übersteigen. Gleichzeitig verspricht die Kommission, den Weizenmarkt genau im Auge zu behalten und Massnahmen zu ergreifen, falls es zu Turbulenzen kommt.
Die Länder haben seit Wochen um diesen Kompromiss gerungen. Umstritten war nur schon, welcher Zeitraum für die Berechnung berücksichtigt werden soll. Je länger er zurückreicht, desto tiefer ist der Durchschnitt und desto rascher werden Zölle fällig. Dieses Geschacher zeigt die Komplexität des Dossiers und wie sehr die unterschiedlichen Meinungen aufeinanderprallen.
Die ukrainischen Getreideexporte spalten erstens die Länder. So sprechen sich Parlamentarier besonders aus Frankreich und Deutschland dafür aus, auch beim Weizen ein Schutzregime vorzubereiten wie bei den genannten Gütern. Andere Länder sind dagegen uneingeschränkt für den Freihandel mit der Ukraine, zum Beispiel die Niederlande und Dänemark.
Zweitens treibt die Agrarfrage einen Keil zwischen die EU-Kommission und jene Mitgliedsländer, die sich für Hürden im Handel mit der Ukraine einsetzen. Die Kommission sieht sich als Hüterin des freien Warenaustausches. Für sie wäre es sehr peinlich, wenn sie in dieser Frage einen Rückzieher machen müsste.
Auf dem Spiel steht darüber hinaus die Glaubwürdigkeit der EU als eines Ganzen. Vor bald zwei Jahren hat sie der Ukraine den Status eines Beitrittskandidaten verliehen. Damals sagte Sandra Kalniete, die ständige Berichterstatterin für die Ukraine des EU-Parlaments: Man müsse zeigen, dass die Unterstützung der Ukraine «uneingeschränkt, unerschütterlich und unumkehrbar» sei.
Die grossen Versprechen der EU
Doch so standfest wie angekündigt sind die Länder offenbar nicht, obwohl schon damals klar war, dass die teilweise sehr effizient produzierende ukrainische Landwirtschaft für Europas Bauern ein Problem darstellen wird. Aber man nahm das in Kauf, um dem Land zu helfen. Und es sollte mehr Getreide aus der Ukraine auf den europäischen Markt kommen, denn sonst wäre dem Land finanziell ja nicht geholfen.
Im Frühsommer 2022 herrschte allerdings am Agrarmarkt und unter Politikern Panik. Der Weizenpreis war auf fast 450 Euro pro Tonne geschossen, weil die Ukraine infolge des Krieges nur wenig Getreide exportierte. Heute dagegen gibt es genügend Weizen auf dem Markt, weil die Ernten rund um den Globus üppig ausgefallen sind und die Ukraine anders als vor zwei Jahren wieder über das Schwarze Meer exportieren kann. Der Weizenpreis ist als Folge davon auf 200 Euro pro Tonne gefallen.
Die Proteste verschleiern zudem, dass die EU insgesamt ein Exporteur von Weizen ist. Zudem scheint Polen in erster Linie ein Transitland für ukrainischen Weizen zu sein und nicht ein Absatzmarkt, wie man aufgrund der Proteste meinen könnte. Laut den Daten der EU-Kommission landen 75 Prozent der Exporte letztlich in Spanien und nicht einmal 1 Prozent in den Nachbarländern der Ukraine. Diese fühlt sich daher wohl nicht zu Unrecht als Sündenbock für innereuropäische Probleme.