Hohe Strafe für Tötung am Rheinufer – Rekonstruktion eines rätselhaften Falles.
Das Ende ist keine Überraschung mehr. Das Landgericht Waldshut-Tiengen verurteilt Denis M. wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von 13 Jahren. Der Richter sagt: «Wir wären auch ohne das Geständnis zum gleichen Schuldspruch gekommen.» Die aufwendigen Ermittlungen hätten keine Zweifel daran gelassen, dass der Angeklagte schuldig ist.
Das Urteil des Landgerichts Waldshut-Tiengen bildet den Abschluss eines rätselhaften Kriminalfalls. Eines Kriminalfalls, der mit einer zufälligen Begegnung anfängt und in einer Tragödie endet. Ein 31-jähriger Wildcamper aus St. Gallen trifft am 8. Juni des letzten Jahres auf einen acht Jahre älteren Mann aus Lettland, der sich auf einer Baustelle in der Region verdingt. Am Ende ist der junge Schweizer tot, erschlagen mit einem Holzscheit.
Warum bringt jemand einen wildfremden Menschen um, ohne dass irgendein klares Motiv ersichtlich ist?
Es ist diese Frage, welche die Angehörigen, die Öffentlichkeit und auch die Ermittler in diesem Fall bis heute umtreibt. Ein halbes Jahr lang haben die Ermittler den Fall untersucht, sind Hunderten von Spuren gefolgt und haben das Leben des Täters ausgeleuchtet. Der Fall füllt zwanzig Aktenordner.
Und so ist es ihnen gelungen, diese rätselhafte Tat zu rekonstruieren.
Ein fröhlicher Abend, der in einer Tragödie endet
Der junge Schweizer ist an diesem Tag zu Fuss unterwegs. Am Rheinufer bei Jestetten will er übernachten, in einer Hängematte. Am nächsten Tag plant er mit seinem Bruder einen Rave zu besuchen.
Aufnahmen von Überwachungskameras eines Ladens in Rheinau zeigen, wie er am frühen Abend einkaufen geht: Bier, Wasser und Brot. Der junge Mann ist barfuss unterwegs, die Schuhe hat er an den Rucksack gehängt. Gutgelaunt spricht er an der Kasse mit einem Angestellten des Ladens. Sie verstehen sich offenbar gut: Der Verkäufer drückt ihm zum Abschied noch etwas in die Hand.
Etwas später stellt der Schweizer ein Video in einen privaten Chat. In der Aufnahme ist zu sehen, wie er das Rheinufer und den Fluss filmt. Es wirkt wie der perfekte Platz für ihn: eine kleine Lichtung mit einer Wiese und einer Feuerstelle direkt am Wasser, in das ein alter, kleiner Holzsteg führt. Er witzelt, dass ihn die Mücken fressen würden.
Auch Denis M. ist an diesem Tag in der gleichen Gegend unterwegs – zusammen mit zwei anderen Arbeitern aus Lettland. Sie haben frei, es ist Fronleichnam, ein Feiertag in Deutschland. Bilder von Überwachungskameras zeigen, wie sie sich mehrfach in Tankstellenshops mit Getränken und Snacks eindecken.
Denis M. ist da erst zwei Wochen in Deutschland, engagiert von einer lettischen Firma, die als Subunternehmen Aufträge für den Breitband-Internet-Ausbau im Klettgau ausführt.
Die drei Arbeiter sind im gleichen Bautrupp. Sechs Wochen sollen die Männer in Deutschland bleiben, Ende Juni wären sie wieder zurück in ihre Heimat gereist.
Das Leben in Lettland ist für Denis M. geprägt von Problemen. Er wächst in Lettland als jüngstes Kind dreier Geschwister auf. Die Familie ist Teil der russischen Minderheit, die nach der Abspaltung Lettlands von der Sowjetunion als Bürger zweiter Klasse behandelt werden. Als sogenannte Nichtbürger haben sie nicht einmal das Wahlrecht.
Die Eltern trennen sich, als er 14 Jahre alt ist, das Verhältnis zum Vater ist angespannt. Schon früh gerät er in Konflikt mit dem Gesetz, seinen Schulabschluss macht er in einer Jugendstrafanstalt. Geläutert ist er davon nicht. Mit 21 Jahren schlägt er mit einem Komplizen eine alte Dame tot und raub sie aus. Wegen Raubmordes wird er zu einer 13-jährigen Freiheitsstrafe verurteilt.
2015 kommt er auf Bewährung frei. Er arbeitet danach als Tischler und für ein Bestattungsunternehmen. Doch das Geld ist knapp und so entscheidet er sich der Vater eines kleinen Mädchens, als Gastarbeiter nach Deutschland reisen.
Bei sich trägt er bei der Einreise nur 200 Euro – zu wenig für seinen hohen Bier- und Zigarettenkonsum. An jenem verhängnisvollen 8. Juni fragt er seine Partnerin in Lettland gleich zwei Mal um Geld an, sie überweist ihm schliesslich fünf Euro. Mit einem Fahrrad, das er einige Tage zuvor gestohlen hat, fährt er an den Rhein. Er trägt eine schwarze Hose und ein dunkles T-Shirt, auf dem ein Löwe prangt.
Er schiesst Selfies von sich am Rhein und steigt mutmasslich später in Schrebergärten ein, wohl auf der Suche nach etwas, das er mitgehen lassen kann. Dabei wird er jedoch ertappt und fragt dann in gebrochenem Englisch nach dem Weg, wie Zeugen später der Polizei berichten werden.
Irgendwann zwischen 19 und 21 Uhr 30 wird er bei der kleinen Badestelle am Rhein auf sein späteres Opfer treffen.
Um 21 Uhr 43 bricht plötzlich der Kontakt ab
Was sich zwischen den beiden Männern danach abgespielt haben muss, rekonstruieren die Ermittler mit aufwendigen forensischen Untersuchungen. Sie entdecken DNA von beiden auf einem Joint, zudem auch Hautschuppen der Männer auf der Innenseite eines Kopfhörers. Aufgrund von Smartphone-Daten des Opfers ist zudem bekannt, dass in dieser Zeit Musik auf dem Handy lief.
Die Staatsanwaltschaft geht deshalb davon aus, dass die beiden Männer zunächst freundschaftlich beisammen sassen, am Lagerfeuer Musik hörten, rauchten, Bier tranken. Gut möglich, dass der junge Schweizer mit seiner offenen Art den Letten spontan einlud, sich zu ihm zu setzen.
Wie aus diesem friedlichen Treffen eine tödliche Auseinandersetzung werden konnte, ist unklar. Die Ermittler können zumindest aber sehr genau eingrenzen, wann sich die Bluttat ereignet haben muss. Der St. Galler bedient um 21 Uhr 41 letztmals sein Handy, um auf Spotify ein neues Lied auszuwählen. Um 21 Uhr 43 bricht plötzlich der Kontakt des Smartphones ab. Denis M. muss zu diesem Zeitpunkt das Handy in den Rhein geworfen haben, wo es die Ermittler später finden.
In den 109 Sekunden dazwischen hat er seinem Opfer die tödlichen Schläge versetzt, da sind sich die Ermittler sicher.
Aufgrund der Verletzungen geht die Polizei davon aus, dass der Lette zunächst zweimal mit der Faust zuschlägt, dann mit dem Holzscheit mehrere Male und mit grosser Wucht auf den Kopf des jungen Mannes einprügelt. Dieser hat den Angriff wohl noch kommen sehen, Schrammen an den Unterarmen deuten darauf hin, dass er seine Arme zur Abwehr hochgerissen hat. Doch der Wucht des Angriffs hat das stark alkoholisierte Opfer wenig entgegenzusetzen.
Der junge Schweizer fällt schliesslich mit schweren Kopfverletzungen zu Boden, verliert das Bewusstsein und stirbt kurze Zeit später.
Der Täter wirft das Handy ins Wasser und versucht dann, auch den leblosen Körper seines Opfers in den Rhein zu schleifen. Auf halbem Weg hört er jedoch auf. Der junge Mann bleibt dort liegen, bäuchlings, mit bis zu den Knien heruntergezogener Hose.
Die Ermittler werden später auch DNA-Spuren im Intimbereich des Opfers finden. Deshalb wird zunächst auch über ein sexuelles Motiv für die Tat spekuliert. Die Staatsanwaltschaft verwirft diese These aber, sie sei zu unwahrscheinlich ist. Sowohl Opfer als auch Täter werden von Freunden und Verwandten als klar heterosexuell beschrieben.
Die DNA-Spuren hätten zudem auch indirekt an den Penis gelangen können, also zum Beispiel vom Joint auf die Hand des Opfers und dann an dessen Geschlechtsteil.
In den Vordergrund rückt ein finanzielles Motiv. Denis M. hat Geldprobleme und zudem schon einmal getötet, um sein Opfer auszurauben. Doch auch diese Erklärung hat Schwächen: Der Täter hat diverse Wertgegenstände am Tatort zurückgelassen, zudem dürfte ihm klar gewesen sein, dass beim Wildcamper nicht viel Geld zu holen ist.
Im letzten Moment spricht Denis M. doch noch
Am Morgen nach der Tat finden Spaziergänger den leblosen Körper des jungen Schweizers. Es beginnt eine grossangelegte Suche nach dem Täter. Eine Sonderkommission wird eingerichtet. Ihr Name: Stick. Der Name leitet sich von der Tatwaffe ab. Auf der Suche nach Beweismaterial und Gegenständen des Opfers durchkämmen die Einsatzkräfte die Region.
Es ist möglicherweise ein älteres Ehepaar, das den entscheidenden Hinweis liefert. Die Rentner besitzen einen der Schrebergärten am Rheinufer. Als der Pensionär gerade draussen duscht, taucht plötzlich ein Fremder auf. Der Rentner wird später schildern, der Mann habe «Sorry» gestammelt und nach dem Weg zu einem Ortsteil des benachbarten Lottstetten gefragt.
Dort bittet die Polizei später alle Bewohner um die Abgabe einer freiwilligen DNA-Probe. Jene von Denis M. stimmt mit den Spuren am Tatort überein.
Die Zeit der Unsicherheit endet schliesslich zwei Wochen später auf einem Parkplatz in Lottstetten. Bewaffnete Einsatzkräfte einer Spezialeinheit steigen an jenem Abend aus ihren Fahrzeugen und überwältigen Denis M.
Die Beweise gegen den 39-Jährigen sind erdrückend. Doch Denis M. schweigt zur Tat – bis im letzten Moment. Als Staatsanwaltschaft und Verteidigung am Dienstag ihre Plädoyers abhalten sollen, spricht er plötzlich doch noch. Er lässt seinen Verteidiger im Gerichtssaal überraschend ein Geständnis verlesen. Er bereue die Tat und bitte die Angehörigen um Verzeihung. Doch dazu, was an jenem Frühsommerabend wirklich passierte, sagt er nichts.
Sowohl die Staatsanwältin als auch der Verteidiger sind sich einig, dass es sich im juristischen Sinne nicht um einen Mord handelt. Dazu hätte dem Mann nachgewiesen werde müssen, dass er besonders verwerflich handelte und zum Beispiel aus reiner Habgier oder Mordlust tötete. Doch dazu fehlen klare Belege. Und so fordern beide ähnlich hohe Freiheitsstrafen: 14 Jahre die Staatsanwältin, 11 Jahre und 6 Monate der Verteidiger.
Am Ende liegt das Gericht mit seinem Urteil von 13 Jahren Freiheitsstrafe zwischen diesen Forderungen. Dass die Tat vorsätzlich verübt worden sei, daran gebe es keine Zweifel, sagt der vorsitzende Richter. Trotz der ausgezeichneten Ermittlungsarbeit habe aber auch das Gericht bei der Frage nach dem Motiv kapitulieren müssen. «Wir sind uns aber darin einig, dass es eine verstörende und vollständig sinnlose Tat war», sagt der Richter.
Sie hätten die Tat auch auf Mordmerkmale geprüft, diese aber nicht finden können. Klare Belege für niedere Beweggründe, Heimtücke oder Habgier hätten gefehlt.
Mit seinem Urteil zieht das Gericht nun einen Schlussstrich unter diesen Fall – zumindest für die Strafverfolger. Denis M. hat noch die Möglichkeit, das Urteil beim Bundesgerichtshof überprüfen zu lassen, dazu müsste er innerhalb von einer Woche Revision beantragen.
Für die Familie des Opfers, so sagt es deren Rechtsvertreter vor Gericht, hat die Tat lebenslange Folgen.
Und die Frage nach dem «Warum» wird ihnen wohl nie jemand beantworten.