Die Waffenruhe hängt in der Schwebe: Bald könnte Israel wieder in den Gazastreifen einmarschieren. Michael Milshtein leitete die Palästinenser-Abteilung des israelischen Militärgeheimdiensts. Im Gespräch erklärt er, welche Möglichkeiten Israel jetzt hat – und welches Schicksal die Geiseln erwartet.
Herr Milshtein, Israel hat alle Hilfslieferungen in den Gazastreifen gestoppt, Donald Trump hat der Terrororganisation mit der Vernichtung gedroht, falls sie die Geiseln nicht freilässt. Bricht der Krieg wieder aus?
Die Ankündigung Donald Trumps hat mich vor allem verwirrt. Ich denke nicht, dass sich ein grosser Plan dahinter verbirgt. Aber eins ist klar: Wir befinden uns in einer sehr sensiblen Phase. Es gibt keine klaren Rahmenbedingungen für die Waffenruhe mehr, seitdem die erste Phase am vergangenen Samstag abgelaufen ist. Es ist eine künstliche Feuerpause: Beide Seiten haben kein Versprechen abgegeben, über die zweite Phase zu verhandeln.
Israel hat nun drei Optionen. Erstens kann es zum Abnützungskrieg zurückkehren, wie er zuvor geführt wurde. Zweitens könnte Israel den gesamten Gazastreifen besetzen und dort bleiben. Drittens, wir beenden den Krieg und bringen die Geiseln zurück. Aber die Zerstörung der Hamas und die Rückkehr der Geiseln kann Israel nicht gleichzeitig erreichen – obwohl viele israelische Minister das fordern.
Lässt Israel die Geiseln im Stich, wenn es den Krieg wiederaufnimmt?
Ja, eindeutig. Leider gab es bisher nur eine israelische Ministerin, die das in dieser Deutlichkeit gesagt hat: Orit Strook (Ministerin für Siedlungen von der rechtsextremen Partei Religiöser Zionismus, Anm. d. Red.). Als sie gefragt wurde, wie sie sich zwischen den Geiseln und der Zerstörung der Hamas entscheiden würde, antwortete sie, dass Letzteres wichtiger sei. Ich denke, dass die dritte Möglichkeit die am wenigsten schlechte ist: mit der Hamas über die zweite Phase verhandeln, sich vollständig aus dem Gazastreifen zurückziehen und den Krieg beenden. Sonst werden wir die Geiseln nicht wiedersehen. Leider sieht es nach Trumps Ankündigung danach aus, dass eine Wiederaufnahme des Kriegs wahrscheinlicher ist.
Ist denn das andere Szenario, eine langfristige israelische Besetzung des Gazastreifens, um die Hamas zu zerstören, überhaupt realistisch? Selbst nach 15 Monaten Krieg ist die Organisation nicht am Boden.
Natürlich ist es möglich, die Hamas militärisch zu zerstören. Israel muss sich nur darüber im Klaren sein, was das bedeutet. Es müsste den Gazastreifen besetzen und dort bleiben. Denn wenn israelische Soldaten wieder abziehen, füllt sofort die Hamas das Vakuum. Man müsste eine Alternative zur Hamas aufbauen – all das dürfte Jahre dauern. Und der wirtschaftliche, politische, gesellschaftliche und natürlich militärische Preis wäre sehr hoch. Das wäre kein leichter Schritt, sondern ein langer, schwieriger Einsatz.
Was wären die Konsequenzen für Israel, falls es den Gazastreifen wiederbesetzen würde?
Wenn Israel Gaza permanent besetzte, müssten sechs bis sieben Divisionen dort stationiert sein. Hunderttausende Israeli müssten monate- oder vielleicht jahrelang Reservedienst leisten. Das wird sehr viel Geld kosten und den Menschen sehr viel abverlangen. Und natürlich werden die Hamas und die anderen Terrororganisationen ihre Niederlage nicht akzeptieren. Sie werden sich nicht deradikalisieren, sondern das gleiche Modell wie die irakischen Milizen verfolgen nach der amerikanischen Besetzung 2003 – den Kampf fortsetzen. Ich hoffe also, dass unsere Regierung den Preis kennt, wenn sie über die Besetzung von Gaza nachdenkt, und ihn den Menschen mitteilt. Falls nicht, befinden wir uns auf einem schrecklichen Abenteuerkurs.
Zur Person
Der israelische Hamas-Erklärer
Michael Milshtein leitet das Forum für palästinensische Studien am Moshe-Dayan-Zentrum der Universität Tel Aviv. Bis 2018 leitete er die Palästinenser-Abteilung des israelischen Militärgeheimdiensts Aman. Milshtein gilt als einer der wichtigsten Hamas-Experten in Israel.
Sollten beide Seiten einem Kriegsende zustimmen, bliebe die Hamas an der Macht. Kann Israel das akzeptieren?
Kurzfristig schon. Vor allem gibt es keine andere realistische Möglichkeit. Wir können jahrelang über irgendwelche Gaza-Clans oder Friedenstruppen der Vereinigten Arabischen Emirate als Alternative zur Hamas sprechen – aber das sind alles Phantasien. Langfristig muss Israel einen Plan ausarbeiten, um die Hamas endgültig zu zerstören, denn eine Koexistenz mit ihr ist nicht möglich. Das ist kein Plan für heute oder morgen, sondern für einen Krieg in einigen Jahren.
Auch der kürzlich veröffentlichte Vorschlag der Arabischen Liga drückt sich um die Frage, wie es mit der Hamas weitergeht. Wie bewerten Sie den Plan?
Ich denke, wir dürfen nicht naiv sein. Der Vorschlag der arabischen Staaten erlaubt es der Hamas, ihre militärische Macht beizubehalten und der einflussreichste Akteur im Gazastreifen zu bleiben. Zwar ist die Rede von einer technokratischen Administration, allerdings steht dort nirgendwo, dass die Hamas sich auflösen muss. Für Israel ist das ein sehr schlechtes Szenario.
Trotzdem sollte Israel den Vorschlag wenigstens prüfen. Leider haben die USA und das israelische Aussenministerium die Initiative nur wenige Stunden nach der Veröffentlichung abgelehnt. Das heisst, dass Israel im Moment keinen Plan hat und Donald Trumps Gaza-Vorschlag keinerlei Chance auf Realisierung hat. Ich mag den arabischen Plan wirklich nicht – aber ich sehe auch keine bessere Alternative.
Wie würde die Zukunft des Gazastreifens aussehen, wenn der Plan der Arabischen Liga umgesetzt werden würde?
Die Hamas wird der wichtigste Akteur hinter den Kulissen bleiben. Es wird eine alternative Regierung geben, die sich stark auf den Wiederaufbau fokussiert. Gleichzeitig wird sich die Hamas erholen und ihre eigenen zivilen und militärischen Strukturen wiederaufbauen. Das gibt Israel Zeit, die es nutzen muss. Zeit, um den künftigen Krieg vorzubereiten – den endgültigen Krieg gegen die Hamas.