Schon nächstes Jahr will die EU Anbieter von Internetdiensten wie Threema oder Swisscom verpflichten, digitale Beweise für Delikte ohne kompliziertes Verfahren herauszurücken. Die Schweiz gerät unter Druck.
Ein internationaler Drogenring betreibt im Darknet eine verschlüsselte Handelsplattform für Betäubungsmittel und gefälschte Rezepte. Die Server stehen in Litauen, die Steuerung übernimmt ein Administrator aus Österreich, der sich über Anonymisierungsdienste abschirmt.
Täglich laufen Hunderte Transaktionen in Kryptowährungen über die Plattform. Bei der Analyse verdächtiger Geldflüsse stossen die Ermittler auf ein Schweizer Fintech-Konto. Es wird offenbar genutzt, um Kryptogewinne in reale Vermögenswerte zu überführen. Ein wichtiger Knotenpunkt im digitalen Geldkreislauf des Netzwerks.
Die entscheidenden Beweise in diesem fiktiven Fall – E-Mails, IP-Adressen, Cloud-Back-ups – liegen jedoch bei Providern in Irland und Litauen. Es kann Monate dauern, bis die Schweizer Ermittler via Rechtshilfeersuchen an die Daten kommen. Langwierige Verfahren sind ein Grund, warum grenzüberschreitende Cyberermittlungen oft ins Stocken geraten oder sogar scheitern.
Schweizer Anbieter von EU-Vorschriften betroffen
Gleichzeitig sind digitale Beweise flüchtig: Daten werden nicht dauerhaft aufbewahrt oder gelöscht. Tempo ist entscheidend. Der Bundesrat hat aus diesem Grund am Mittwoch den Weg für eine kleine Revolution in der Strafverfolgung bereitet. Er plant, sich einer Initiative der EU anzuschliessen, die den Zugang zu elektronischen Beweismitteln für Strafverfolgungsbehörden vereinfachen und beschleunigen soll – unter Umgehung der klassischen Rechtshilfe.
Ab Juli 2026 sind Anbieter digitaler Dienste in der EU nämlich verpflichtet, auf Anordnung einer Strafverfolgungsbehörde eines EU-Mitgliedstaates elektronische Daten direkt herauszugeben. Und dies ohne dass die Justizbehörden des Landes, in dem der Anbieter sitzt, einbezogen werden müssen. Ein deutscher Ermittler, der auf eine verdächtige E-Mail-Adresse stösst, deren Anbieter in Irland sitzt, kann dort also die Daten direkt verlangen – ohne Einschaltung der irischen Justizbehörden.
Ob die Daten inner- oder ausserhalb der EU gespeichert werden, spielt dabei keine Rolle. Massgeblich ist nur, ob der Dienst in der EU verfügbar ist. Die E-Evidence-Vorlage ist also äusserst weitreichend: Selbst Anbieter mit Sitz in Drittstaaten wie der Schweiz können verpflichtet werden, Daten herauszugeben, wenn sie ihre Dienste EU-Nutzern zugänglich machen.
Eine Folge des Terroranschlags von Brüssel
Für Anbieter wie Swisscom, Sunrise, Threema oder Proton-Mail entsteht damit eine heikle Lage: Rücken sie Beweise auf Anordnung aus einem EU-Staaten heraus, machen sie sich in der Schweiz unter Umständen strafbar. Artikel 271 des Strafgesetzbuches verbietet es, ohne Ermächtigung der Schweiz auf ihrem Staatsgebiet hoheitliche Handlungen für einen fremden Staat vorzunehmen – etwa wenn eine Schweizer Behörde dafür zuständig wäre.
Das E-Evidence-Paket geht auf die Terroranschläge von 2016 in Brüssel zurück, bei denen Islamisten am Flughafen Zaventem und in der U-Bahn über 30 Menschen töteten. Zwei Tage später forderten die EU-Justiz- und -Innenminister einen schnelleren und direkteren Zugang zu elektronischen Beweismitteln, da wichtige digitale Spuren nicht rechtzeitig ausgewertet werden könnten. Die EU-Kommission legte 2018 einen Gesetzesvorschlag vor – das E-Evidence-Paket wurde 2023 verabschiedet.
Mit dem Inkrafttreten von E-Evidence im nächsten Jahr gerät die Schweiz wegen dessen extraterritorialen Wirkung unter Druck. Ein Bericht des Bundesrates skizzierte vor zwei Jahren drei Optionen: Die Schweiz könnte – erstens – untätig bleiben, was aber für die Anbieter rechtliche Risiken zur Folge hätte. Zweitens könnte sie eine eigenständige Lösung entwickeln, was politisch und praktisch kaum umsetzbar wäre. Und drittens sie schliesslich an das E-Evidence-System der EU andocken.
Auch Bundesanwaltschaft dafür
Jetzt zeigt sich: Für den Bundesrat steht die dritte Variante im Vordergrund. Er hat das Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) von Beat Jans diese Woche damit beauftragt, zu evaluieren, ob in diesem Bereich enger mit der EU zusammengearbeitet werden könnte. Ausserdem soll es prüfen, welche gesetzliche Grundlage die Schweiz schaffen müsste. Zu diesem Zweck sollen nun Sondierungsgespräche mit der EU aufgenommen werden.
Eine starke, grenzüberschreitende Strafverfolgung nütze sowohl der Schweiz als auch der EU, so begründet der Bundesrat seinen Entscheid in einem Communiqué. In 80 Prozent aller Kriminalfälle spielten digitale Daten für die Aufdeckung der Tat und für die Bestrafung der Täter eine wichtige, wenn nicht gar entscheidende Rolle. Es sei deshalb wichtig, den Austausch elektronischer Beweismittel zu erleichtern.
Die Bundesanwaltschaft sieht dies ähnlich, wie sie in einem Bericht von 2024 schrieb: «Ein Beitritt würde die Chancen erhöhen, Ransomware-Angreifer und andere Cyberkriminelle zu identifizieren, zu verfolgen und schliesslich strafrechtlich zu verurteilen.»
Grundrechtliche Bedenken
Doch so nachvollziehbar dies alles klingt: Unbestritten ist es nicht. Die Digitale Gesellschaft beispielsweise, ein Schweizer Verein, der sich für den Schutz der Grundrechte im digitalen Raum einsetzt, meldete schon frühzeitig Bedenken an. Effizienzsteigerung in der Strafverfolgung dürfe nicht zulasten des Datenschutzes und der Grundrechte erfolgen.
Sie äussert unter anderem Bedenken, dass das System von «rechtsstaatlich problematischen Staaten» missbraucht werden könne. Gegenüber dem «Tages-Anzeiger» äusserte sich kürzlich auch der Chef des Schweizer Messenger-Dienstes Threema, Martin Blatter, skeptisch: Wenn man der EU nachgebe, folgten bald auch die USA und später totalitäre Länder, so befürchtet er.
Tatsächlich dürften solche Fragen zu Kontroversen führen, sobald die Debatte auf die politische Ebene gelangt. Der Bundesrat ist sich dieser Gefahr bewusst: Die schweizerischen Anforderungen an den Datenschutz und die Verfahrensrechte der Betroffenen müssten berücksichtigt werden, betont er. Doch eine starke grenzüberschreitende Strafverfolgung sei «ein wichtiger Schritt bei der internationalen Kriminalitätsbekämpfung».