Für die Festwochen der Alten Musik in Innsbruck wurden gleich zwei Opern rund um das Schicksal der klassischen Iphigenie ausgegraben. Solche Wiederbelebungen sind oft ein Wagnis, in diesem Fall aber rechtfertigt der künstlerische Ertrag den Aufwand.
Über Sinn und Unsinn von musikalischen Wiederentdeckungen lässt sich vortrefflich streiten. Die Debatte ist so alt wie die Bestrebung selber, vernachlässigte Werke von mehr oder weniger prominenten Komponisten wieder ans Licht zu bringen. Denn längst ist klar: Nicht jede Trouvaille aus irgendeinem Archiv ist eine musikhistorische Sensation. Doch um dies überhaupt bewerten zu können, müssen Partituren zunächst einmal bekannt sein. Ob sie sich im Repertoire halten können, steht dann auf einem anderen Blatt.
Für seine zweite Ausgabe als Leiter der Innsbrucker Festwochen der Alten Musik hat Ottavio Dantone gleich zwei Opernraritäten ausgegraben, nämlich Antonio Caldaras «Ifigenia in Aulide» von 1718 sowie Tommaso Traettas «Ifigenia in Tauride» von 1763. Die Auswahl erweist sich als klug, schon deshalb, weil in Innsbruck damit der klassische Iphigenie-Stoff nahezu vollständig erzählt wurde. Aber sie war auch musikalisch unerwartet ergiebig.
Musikalische Perlen
Das Schicksal der mythologischen Iphigenie gehört seit den überlieferten Tragödien des Euripides zu den zentralen Stoffen der Kulturgeschichte, nicht zuletzt durch Goethes berühmte Schauspielfassung. Auf der Opernbühne haben die beiden Vertonungen von Christoph Willibald Gluck entscheidend zur Entwicklung des modernen Musikdramas beigetragen. Noch in der «Elektra» von Richard Strauss und im 2011 uraufgeführten «Orest» von Manfred Trojahn ist der Mythos mit seinen grossen Fragen von Opfer und Schuld, Rache und Verzeihen präsent.
Die zwei Iphigenien-Opern von Caldara und Traetta verbindet rein äusserlich die Tatsache, dass beide für den Wiener Hof entstanden sind: die Oper Caldaras für Kaiser Karl, das Werk Traettas für Kaiser Franz. Sonst aber trennt sie ein halbes Jahrhundert, und das ist musikhistorisch eine Zeitenwende.
Während Traettas «Ifigenia» die Reformen Glucks aufgreift, ist Caldaras Vertonung noch von der italienischen Opera seria geprägt, folgt also dem altbewährten Modell mit einem Wechsel aus Rezitativen und Arien. Wie Caldara dieses Modell behandelt, das zeugt freilich von einer ureigenen Erfindungskraft. Da reihen sich musikalische Höhepunkte aneinander, die Vielfalt der verwendeten Formen – von der französischen Passacaille bis zur Fuge – ist ebenso frappierend wie der Einfallsreichtum bei der Instrumentation.
Das trägt mühelos über eine Spieldauer von knapp vier Stunden. Dantone macht mit seiner Accademia Bizantina und einer ausgezeichneten Solistenriege um Marie Lys in der Titelrolle en passant deutlich, warum Caldara von den Zeitgenossen zum «italienischen Händel» geadelt wurde, der sich der Wertschätzung von so unterschiedlichen Komponisten wie Bach, Mozart, Beethoven und Brahms erfreute.
Auch Traetta hatte illustre Fürsprecher. Gluck übernahm 1767 sogar persönlich die Leitung einer Aufführung von dessen «Ifigenia» in Florenz und verarbeitete stilistische Elemente aus dieser Oper in eigenen Werken. Es gab offensichtlich einen regelrechten Austausch von innovativen Ideen zwischen den beiden Komponisten, denn Traetta seinerseits reflektiert in der «Ifigenia» Elemente aus Glucks wegweisender Reformoper «Orfeo ed Euridice» von 1762. Man erkennt das vor allem an den Chören, die Traetta psychologisierend und wirkungsvoll einsetzt. Unter Christophe Rousset machen das der Chor Novo Canto aus Tirol und das Ensemble Les Talens Lyriques exemplarisch anschaulich.
Bei den vom Orchester begleiteten Rezitativen orientierte sich Traetta hingegen frühzeitig an Vorbildern wie Niccolò Jommelli oder Johann Adolf Hasse. Das offenbaren die zur Schärfung von Empfindungen eingesetzte Chromatik, die nahtlosen Übergänge zu den Arien und die dramatische Aussetzung der Rezitative, die wie Gespräche zwischen mehreren Personen gestaltet sind. In Innsbruck zeigt sich, dass man Traettas Anteil an der Weiterentwicklung der Opernform wohl deutlich höher gewichten sollte, als dies bis anhin üblich ist.
Auch für Traetta wurde eine erstklassige Besetzung engagiert, mit Rocío Pérez als dramatisch wandelbarer Titelheldin und dem Countertenor Rafał Tomkiewicz als empfindsamem Orest an der Spitze. Bei Traetta überzeugte zudem die Inszenierung. Nicola Raab hält mit dem Einsatz der Drehbühne die Handlung auch szenisch im Fluss, die wechselnden Orte werden zu Seelenräumen. Das steht wiederum im Einklang mit der bei Traetta spürbar fortgeschrittenen Psychologisierung der Figuren und des gesamten Geschehens.
Eingang ins Repertoire?
Anders die Caldara-Inszenierung: Anna Fernández und Santi Arnal von der Companyia Per Poc setzen auf übergrosse Puppen, die die handelnden Personen verdoppeln – und damit gewissermassen eine Trennung zwischen ihrer äusseren Erscheinung und ihrer Innenwelt schaffen. Auf die Dauer wirkt das zu abstrakt und sperrig. In diesem Fall hilft die Regie der Wirkung des Stückes nicht, zumal man bei der einen oder anderen Stelle auch noch beherzter mit Kürzungen hätte nachhelfen können.
Solche Eingriffe sind immer schmerzlich, gerade hier, wo nahezu jede Arie eine Perle ist. Doch es geht bei solchen szenischen Ausgrabungen nicht vorrangig um Texttreue, sondern in erster Linie darum, die Bühnenwirksamkeit eines unbekannten Stücks unter Beweis zu stellen. Nur sie entscheidet in der Praxis darüber, ob es eine Chance hat, ins Repertoire aufgenommen und auch an anderen Bühnen nachgespielt zu werden. Bei Caldara wie bei Traetta stehen die Chancen dafür nicht schlecht, weil der künstlerische Gehalt der Werke beachtlich ist. Beide sollen überdies in absehbarer Zeit in Einspielungen zugänglich werden.