Die Mutter der französischen Schriftstellerin litt an Alzheimer. Nun ist Ernaux’ Tagebuch über die letzte gemeinsame Zeit mit ihr auf Deutsch erschienen.
Alles, was Annie Ernaux in ihrem Leben je über ihr Leben aufgeschrieben hat, wird eines Tages veröffentlicht, so der Eindruck. Und weil Ernaux alles zu erleben scheint, damit sie es eines Tages aufschreiben kann, umfasst ihr Werk inzwischen zahlreiche autofiktionale Bücher.
Unter dem Titel «Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus» ist nun auch Ernaux’ Text über die Alzheimer-Erkrankung ihrer Mutter auf Deutsch erschienen, fast dreissig Jahre nach dem französischen Original. Auch der Suhrkamp-Verlag hilft also dabei, zu verwerten, was die Nobelpreisträgerin je zu Papier gebracht hat.
In dem wie immer schmalen Band berichtet Ernaux in Tagebucheinträgen von ihren Besuchen bei ihrer kranken Mutter im Pflegeheim. Sie habe nicht gewusst, wohin sie ihr Schreiben über das Verschwinden der Mutter führe, so Ernaux einleitend: Es habe sie zu deren Tod geführt.
Alzheimer war Mitte der achtziger Jahre noch nicht gut erforscht. Doch an der Trauer darüber, wie es ist, wenn einem ein Mensch langsam abhandenkommt, hat seither auch noch so viel medizinische Kenntnis nichts geändert. Ernaux legt hier die Chronik einer zeitlosen Erfahrung vor: der endgültigen Trennung von der Frau, die sie geboren hat. «Ungeheurer Schmerz, dass ihr Leben so zu Ende geht», heisst es einmal.
Vertauschte Rollen
In ihrer kahlen Sprache beschreibt Ernaux den körperlichen und geistigen Zerfall der Mutter. Der mitleidlose Ton verstärkt die Brutalität der Situation. Manchmal sind es stichwortartige Sätze, als erlangte die Autorin Kontrolle über ihre Gefühle, indem sie diese nicht ausformuliert.
Die Mutter verliert eine alltägliche Fähigkeit nach der anderen. Ernaux notiert: «Wieder festgeschnallt. Schafft es nicht, den Kuchen zu essen, ein Stück Aprikosentorte, ihre Hand findet den Mund nicht, ihre Zunge streckt sich dem unerreichbaren Leckerbissen entgegen. Ich habe sie gefüttert, wie früher meine Kinder.»
Man spürt den Ekel, wenn sie über den Gestank im Zimmer schreibt, weil die Mutter auf den Boden uriniert. Dann aber auch wieder grosse Zärtlichkeit: So ist die Freude der alten Frau darüber, gekämmt und schön gemacht zu werden, vom Gedächtnisverlust nicht bedroht. «Existieren heisst gestreichelt, berührt werden», schreibt Ernaux.
Die Autorin wird zu einer Begegnung mit sich selber gezwungen, wie es das Sterben der Eltern mit sich bringt. Ernaux merkt, dass die Mutter, obwohl sie als Mensch immer weniger wird, weiterhin eine Macht über sie hat: Sie löst Schuldgefühle aus. Diese plagen die Tochter jedes Mal, wenn sich im Lift die Tür vor dem Gesicht der Mutter schliesst. Auch erlebt sie «Verdoppelungen»: Im alten nackten Frauenkörper – den die Kranke ihr schamlos offenbart – sieht sie sich in die Zukunft gespiegelt.
Das Leben, ein unvollendetes Werk
Ernaux kreist in ihren Büchern um sich und ihr Leben. Sie bezeichnet sich als «Ethnologin ihrer selbst». Diesmal zitiert sie mit dem Titel des Buchs eine andere: Den Satz «Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus» hat die Mutter als Letztes aufgeschrieben, bevor sie auch nicht mehr schreiben konnte.
Ernaux hat bereits ein Buch über ihre Mutter geschrieben. In «Eine Frau» erzählt sie von deren Leben als Arbeiterin, die mit ihrem Mann einen Lebensmittelladen in der Normandie führte. Sie habe lange dieses «einzige Bild» der Mutter stehenlassen wollen und nicht geplant, den Text über ihre Alzheimer-Erkrankung zu veröffentlichen.
Warum tut sie es trotzdem? Weil sie von der Einheit und Kohärenz, auf die jedes Werk hinauslaufe, herausgefordert werde, lautet ihre Antwort. Es dürften also noch einige Texte von Ernaux folgen. Allein deshalb, weil auch ein Leben nie abgeschlossen ist.
Annie Ernaux: Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2025. 106 S., Fr. 33.90.