Nach dem Scheitern von Friedrich Merz im ersten Wahlgang jagte eine Krisensitzung die nächste. Das Wort von der Staatskrise machte bereits die Runde. Union und SPD scheinen auf eine solche Situation nicht vorbereitet gewesen zu sein.
Am Morgen dieses ereignisreichen Tages sind die Abgeordneten von CDU und CSU noch guter Dinge. Friedrich Merz sollte am Vormittag zum nächsten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt werden. Um acht Uhr treffen sich die Parlamentarier im Fraktionssaal im Bundestag zum Zählappell. Die Stimmung sei entspannt, aber nicht euphorisch gewesen, sagt ein Unionsabgeordneter. Siegesgewissheit habe er nicht unbedingt gespürt.
Der erst am Vortag gewählte Unionsfraktionsvorsitzende Jens Spahn zählt durch und stellt Vollzähligkeit fest: 208 Personen. Alle Abgeordneten sind anwesend. Ähnliches passiert zeitgleich bei der SPD. Auch dort sind alle 120 Fraktionsmitglieder präsent.
Um 9 Uhr eröffnet Parlamentspräsidentin Julia Klöckner von der CDU die Sitzung. Der einzige Tagesordnungspunkt ist die namentliche Wahl des Bundeskanzlers. Als Klöckner gut 70 Minuten später das Ergebnis verkündete, herrscht vor allem bei Union und SPD breites Entsetzen. Merz fehlen 18 Stimmen. Einen gescheiterten Wahlgang bei einer Kanzlerwahl gab es in der Bundesrepublik noch nicht.
Was dann geschieht, hat die NZZ aus Gesprächen mit mehreren Abgeordneten von Union und SPD rekonstruiert. Nach der ersten Schockstarre sei demnach auf den Handys der Abgeordneten die Nachricht eingetroffen, umgehend in ihren Fraktionssaal zu einer Krisensitzung zu kommen. Für solche organisatorischen Aufgaben zeichnen die Parlamentarischen Geschäftsführer und ihre Büros verantwortlich.
Gedrückte Stimmung bei der Union
Bei der Union heisst es, die Stimmung sei sehr gedrückt gewesen. Als Merz den Saal betritt, habe es Standing Ovations gegeben. Minutenlang hätten ihm die Abgeordneten applaudiert. Das sei ein Zeichen des Zusammenhalts gewesen. Dann spricht Fraktionschef Spahn. Die Lage sei sehr ernst, soll er gesagt haben. Die Abgeordneten sollten sich in Bereitschaft halten. Es müsse nun geklärt werden, wie es weitergehe. Dazu müssten Gespräche mit den anderen Fraktionen geführt werden.
Interessant ist, was Spahn demnach nicht gesagt hat. Es habe keinen Appell seinerseits an die Fraktion gegeben, für Merz zu stimmen, heisst es, auch keine Hinweise, welche Folgen ein Scheitern von Merz haben könnte. Sie seien sicher, dass die Abweichler bei den Sozialdemokraten sässen, sagte ein CDU-Abgeordneter, um dann im nächsten Atemzug zu ergänzen, dass es vielleicht auch einen aus der Union geben könnte. Wer auch immer diese Leute seien, sie sollten sich schämen. Das sei eine Katastrophe für Deutschland.
Parallel dazu hält auch die SPD ihre Krisensitzung ab. Sie sei nach Auskunft mehrerer Abgeordneter, von Lars Klingbeil geleitet worden, dem Ko-Parteivorsitzenden und designierten Vizekanzler. Er vertraue der Fraktion und glaube nicht, dass die Abweichler aus den eigenen Reihen kämen, soll er dort gesagt haben. Auch Klingbeil bat demnach die Abgeordneten, sich in Bereitschaft zu halten. Auch er habe offenbar zunächst nicht gewusst, wie es weitergeht. Die Führungen von Union und SPD scheinen auf eine solche Situation nicht vorbereitet gewesen zu sein.
Es ist später Vormittag, als die Koalitionsfraktionen auseinandergehen. Einige Abgeordnete geben vor dem Plenum Interviews. Die meisten aber gehen in ihre Büros und verfolgen von dort aus die Live-Berichterstattung im Fernsehen. Dort rätseln Journalisten und ihre Gesprächspartner nicht nur, was die Verfassung und die Geschäftsordnung des Bundestages in dieser Situation nun vorsehen. Sie fragen sich auch, was die Motive der 18 Abweichler sind.
Union und SPD beschuldigen sich gegenseitig
Darüber machen sich auch die Abgeordneten Gedanken, mit denen die NZZ sprach. Unionsabgeordnete äussern die Vermutung, dass es sich einerseits um Vertreter des linken Flügels der Sozialdemokraten und andererseits um SPD-Abgeordnete handele, die bei der Vergabe von Posten leer ausgegangen seien. Die einen hätten mit Klingbeil noch eine Rechnung offen, die anderen lehnten Merz schlicht ab. Sie hätten dem CDU-Vorsitzenden und designierten Kanzler einen Denkzettel verpassen wollen.
Vor allem aber, so sagen die NZZ-Gesprächspartner, hätten die Abweichler das Prinzip nicht verstanden, nach dem der Bundeskanzler gewählt wird. Sie hätten, heisst es, offenbar gedacht, das sei wie bei der Wahl des Bundespräsidenten: Wenn der erste Wahlgang scheitert, gibt es direkt den nächsten. Doch so funktioniert es nicht.
Um noch am selben Tag einen zweiten Wahlgang anzusetzen, musste die Tagesordnung des Parlaments geändert werden. Dafür war eine Zweidrittel-Mehrheit erforderlich, also die Zustimmung von zwei der drei Oppositionsfraktionen AfD, Grünen und Linkspartei.
Auch bei den SPD-Abgeordneten, mit denen die NZZ sprach, wird dieser Verdacht geäussert. Die Abweichler, sagen auch sie, hätten wohl nicht gewusst, was sie mit ihrem Nein anrichten. Allerdings sehen sie die Abtrünnigen nicht bei ihrer Partei. Jeder SPD-Abgeordnete sei sich im Klaren darüber gewesen, dass ein Scheitern von Merz im ersten Wahlgang nur der AfD und sonst niemandem nütze. Die «Rechtsradikalen» dürften keinen Einfluss kriegen.
Lieber jetzt Schwarz-Blau als künftig Blau-Schwarz
Ein Sozialdemokrat sagt, es gebe bei der Union eine wachsende Gruppe von Abgeordneten, die lieber jetzt mit Schwarz-Blau regieren würden, als in Zukunft mit Blau-Schwarz. Mit Schwarz-Blau ist eine Koalition aus Union und AfD gemeint. Demnach läge die Hauptschuld für das Scheitern von Merz im ersten Wahlgang bei seiner eigenen Fraktion.
Wer auch immer die Abweichler in der designierten Regierungskoalition von Union und SPD waren, der Schaden ist angerichtet. Abgeordnete berichten nicht nur von ihrer eigenen Fassungslosigkeit, ihrem Entsetzen und ihrer Enttäuschung. Sie berichten auch von unzähligen Nachrichten aus dem In- und Ausland, die sie bekommen hätten, von Unverständnis über das, was in Berlin geschieht. Deutschland werde im Ausland mehr und mehr als Bananenrepublik wahrgenommen, sagt ein Unionsabgeordneter.
Am frühen Nachmittag kommt die Nachricht, dass sich Union und SPD mit Grünen und Linkspartei darauf verständigt haben, um 15.15 Uhr einen zweiten Wahlgang abzuhalten. Auch die AfD hätte dem nach eigenem Bekunden zugestimmt, wenn sie gefragt worden wäre. Gut eine Stunde später verkündet die Parlamentspräsidentin das Ergebnis. Merz ist mit 325 Stimmen gewählt worden, hat also knapp die absolute Mehrheit erreicht. Im ersten Wahlgang waren es nur 310 Stimmen gewesen.