Die NZZ ist dank dem Öffentlichkeitsprinzip an die zuvor geheimen Fallzahlen und Jahresberichte gelangt.
Während andere Bildungsinstitutionen ihre Zahlen zu sexuellen Belästigungen aus eigenem Antrieb oder auf Anfrage veröffentlichen, hat sich die grösste Universität der Schweiz bisher zurückgehalten.
Die Universität Zürich begründete ihre Geheimhaltung mit Datenschutzbedenken: Selbst bei einer anonymisierten Veröffentlichung der Fallzahlen sei eine Re-Identifizierung der betroffenen Personen nicht ausgeschlossen. So argumentierte die Universität im März in einer Antwort auf eine Anfrage aus dem Zürcher Kantonsparlament.
Es war eine Denke, welche nicht einmal die Datenschutzbeauftragte des Kantons Zürich nachvollziehen konnte. Aus ihrer Sicht ist nicht ersichtlich, wie nach einer blossen Nennung der Fallzahlen Rückschlüsse auf die Betroffenen möglich sein können.
Die NZZ reichte in der Folge mit Berufung auf das Öffentlichkeitsprinzip einen Antrag auf Akteneinsicht bei der Universität Zürich ein. Diese hat dem Gesuch nun stattgegeben und die Fallzahlen der letzten zehn Jahre und die fünf jüngsten Jahresberichte der internen Kommission zum Schutz vor sexueller Belästigung geliefert.
Fazit: Die Zahl der Fälle hat in den letzten Jahren stark zugenommen, und sie hat im Jahr 2023 mit 43 registrierten sexuellen Belästigungen einen neuen Höchststand erreicht.
Diese Zahl ist in Relation zu setzen zu der Grösse der Universität: Knapp 28 000 Studentinnen und Studenten sind eingeschrieben, der Personalbestand beläuft sich auf rund 10 000 Angestellte.
Zu berücksichtigen ist weiter, dass die Universität die Fälle in 5 Schweregrade einteilt, wie aus dem jüngsten verfügbaren Jahresbericht (2022) hervorgeht.
Demnach gibt es sehr leichte Fälle, bei denen kein weiteres Vorgehen angezeigt ist; leichte Fälle, die unter das Reglement zum Schutz vor sexueller Belästigung der Universität Zürich fallen; mittelschwere Fälle, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auch strafrechtlich relevant oder komplex sind; schwere Fälle, die eindeutig strafrechtlich relevant sind, und schliesslich sehr schwere Fälle.
Wie sich die Fallzahlen auf diese fünf Schweregrade aufteilen, geht aus den freigegebenen Unterlagen nicht hervor. Die einzelnen Fälle sind in den Jahresberichten in einem Anhang jeweils kurz umschrieben, diese Anhänge waren aber nicht Teil der freigegebenen Dokumente.
Bedrohungsmanagement involviert
Die Universität Zürich definiert sexuelle Belästigung als «jedes Verhalten, das einen Menschen aufgrund seines Geschlechts verletzt oder herabwürdigt und von der betroffenen Person als unerwünscht empfunden wird».
Neben Handlungen, die von Gesetzes wegen bestraft werden, also etwa eine Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung, sind gemäss dem Reglement der Universität unter anderem auch «unangemessene Körperkontakte, aufdringliches Verhalten und anzügliche Bemerkungen» verboten, aber auch «Witze über das Aussehen oder körperliche Eigenschaften» oder das Zeigen von einschlägigen Bildern.
Obwohl zu den einzelnen Fällen keine Details bekannt sind und einzelne Abschnitte der Jahresberichte geschwärzt sind, geht aus den veröffentlichten Dokumenten und einem Begleitschreiben der Datenschutzstelle der Universität an die NZZ klar hervor, dass es sich nicht nur um Bagatellen handelt.
Die Verfügung der Universität zum Einsichtsgesuch der NZZ umschreibt nämlich, was in den abgedeckten Passagen steht: Schutz- und Unterstützungsmassnahmen für die betroffenen Personen. Die Fachstelle arbeitet sowohl mit dem internen Bedrohungsmanagement der Universität wie auch mit den Polizeibehörden zusammen. Dabei werden mögliche Bedrohungsszenarien erörtert.
Im Jahresbericht 2022 schreibt die Universität, dass «Fälle sexueller Belästigung nicht selten Überschneidungen mit möglichen Bedrohungsfällen» ergäben. Die Komplexität der Fälle nehme tendenziell zu. Sexuelle Belästigungen gingen meist einher mit Stalking oder anderem strafrechtlich relevantem Verhalten.
Auf «vielfache Anfrage» war die Fachstelle gemeinsam mit dem Akademischen Sportverband daran, einen Selbstverteidigungskurs an der Universität zu organisieren.
Medizinstudentinnen wehren sich
Die Jahresberichte, oder jedenfalls die freigegebenen Dokumente, liefern keine Aufschlüsselung der Fälle auf die einzelnen Studienrichtungen. Explizit erwähnt im Jahresbericht 2022 ist aber die Medizin: Im März 2022 meldeten sich Studentinnen aus dieser Fakultät bei der Fachstelle. Zuvor hatten Studentenkreise eine Umfrage über Sexismuserfahrungen im Medizinstudium durchgeführt.
In der Folge wurden mehrere runde Tische mit Studentinnen, Vertretern der Medizinischen Fakultät und weiteren Vertretern der Universität Zürich, aber auch der ETH aufgesetzt. Die Studentinnen gründeten zudem einen Verein gegen sexuelle Belästigungen im Spitalumfeld und richteten ein Sorgentelefon ein.
Die Kommission legte dem Rektorat in ihrem Jahresbericht nahe, an der gesamten Universität eine Umfrage zu Erfahrungen mit sexuellen Belästigungen durchzuführen.
Neben der NZZ hatte auch der Verband der Studierenden der Universität Zürich (VSUZH) aufgrund des Öffentlichkeitsgesetzes Einblick in die Jahresberichte verlangt – und erhalten. Der Verein fordert, dass die Universität künftig transparenter mit den Informationen umgeht und die Fallzahlen selbständig veröffentlicht.
Ob die Universität dieser Forderung nachkommt, dürfte sich bald zeigen: In den nächsten Wochen und Monaten steht die Veröffentlichung des Berichts für das Rekordjahr 2023 an.