Bürgerliche wollen die finanzielle Unterstützung der Schweiz an das Uno-Hilfswerk sofort einstellen. Es sei mit der Hamas verbandelt. Der UNRWA-Direktor Roland Friedrich wollte am Montag die ständerätlichen Aussenpolitiker vom Gegenteil überzeugen. Doch nun lässt ihn Israel nicht ausreisen.
Herr Friedrich, am Montag wollen Sie die Ständeräte der Aussenpolitischen Kommission davon überzeugen, weiterhin Unterstützungsgelder für die UNRWA zu sprechen . . .
. . . nein, das geht leider nicht. Ich musste meinen Besuch im Bundeshaus absagen, meine Visa-Verlängerung durch das israelische Aussenministerium wurde verzögert. Somit kann ich nicht ausreisen. Eine Kollegin der UNRWA wird mich vertreten.
Der UNRWA-Direktor Philippe Lazzarini hatte ähnliche Probleme bei der Ein- und Ausreise. Wie hat Israel die Visa-Verzögerung begründet?
Ich habe trotz Nachfrage keinerlei Begründung erhalten. Die UNRWA und auch viele andere Uno-Organisationen vor Ort sehen sich seit Kriegsbeginn am 7. Oktober 2023 mit erheblichen Problemen bei der Vergabe von Visa konfrontiert. Meine mehr als zwanzig internationalen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und ihre Familienangehörigen erhalten seit 2023 nur Visa für jeweils einen Monat. Das bringt Belastungen für die Familienangehörigen mit sich, gerade auch für deren schulpflichtige Kinder. Neu rekrutierte Mitarbeitende erhalten oft gar keine Visa.
Die Aussenpolitische Kommission des Ständerats debattiert am Montag darüber, ob die Schweiz die finanzielle Unterstützung für die Palästinahilfe einstellen soll. Viele bürgerliche Politiker sind überzeugt, dass die Organisation von der Hamas unterwandert ist. Ihre Kollegin soll sie vom Gegenteil überzeugen. Steht sie auf verlorenem Posten?
Meine Kollegin wird eine faktische Darstellung der Situation präsentieren. Im Gazastreifen brauchen mehr als 2 Millionen Menschen lebensrettende Hilfe. Wir verteilen Lebensmittel für mehr als 1 Million Bedürftige, stellen Notunterkünfte für 400 000 Menschen bereit, betreuen 16 000 Patienten am Tag, beschulen Kinder. Wir haben die Mitarbeiter, die Expertise und das Vertrauen der Menschen vor Ort. Im Gazastreifen sind 600 000 Kinder seit fünfzehn Monaten ohne Zugang zu Bildung. Wenn wir sie der Hamas überlassen, werden sie sich radikalisieren.
Wirkt dieses Argument aus dem Mund eines UNRWA-Chefs nicht ein wenig zynisch? In den vergangenen Monaten wurde bekannt, dass mehrere Ihrer Mitarbeiter am Überfall der Hamas vom 7. Oktober beteiligt gewesen sein sollen.
Wir sind im Jahr 2024 informiert worden, dass insgesamt 19 Mitarbeiter beschuldigt würden, an den terroristischen Angriffen teilgenommen zu haben. Das ist eine kleine Zahl, verglichen mit den insgesamt 13 000 UNRWA-Mitarbeitern in Gaza.
Eine kleine Zahl? Spielen Sie die Vorwürfe herunter?
Nein. Wir tolerieren keinerlei Verstösse gegen die Neutralitätspflicht und schon gar keine kriminellen oder terroristischen Aktivitäten von Mitarbeitern. Die UNRWA hat daher sofort eine unabhängige Untersuchung durch das Uno-Hauptquartier in Kooperation mit den israelischen Behörden veranlasst. Dabei kam heraus, dass 9 Mitarbeiter möglicherweise an diesen Angriffen teilgenommen haben. Sie wurden fristlos entlassen.
Ein zweiter Bericht einer unabhängigen Untersuchungskommission kam zum Schluss, die UNRWA müsse ihre Mitarbeiter besser überprüfen und etwa sicherstellen, dass Schulbücher keine antisemitische Propaganda enthielten.
Die Kommission kam zum Ergebnis, dass die Organisation gerade vor dem Hintergrund der Komplexität des Kontextes gut entwickelte Mechanismen zur Gewährleistung der Neutralität hat, die aber in gewissen Bereichen weiter zu stärken sind. Die UNRWA hat daraufhin eine Verschärfung der Kontrollmechanismen veranlasst.
Wie sieht diese Verschärfung aus?
Wir haben beispielsweise den Personalbestand im Bereich der internen Kontrollen und der Ethik erheblich erhöht. Neu wird nicht nur jede Neuanstellung, sondern auch jede Beförderung überprüft. Aber Sie müssen auch die komplexen Umstände dieser Diskussion beachten. Die UNRWA arbeitet in Gaza seit über fünfzehn Jahren in einem sehr einzigartigen Kontext. Eine islamistische Bewegung hat de facto die Regierungskontrolle. Das unterscheidet sich von der Arbeit im Westjordanland, in Jordanien, in Syrien oder in Libanon.
Das Problem ist doch viel eher, dass die UNRWA laut Israel eng mit der Hamas verzahnt ist.
Diese Behauptung ist komplett falsch. Wir hatten über Jahre hinweg enorme Schwierigkeiten mit der Hamas in Gaza, beispielsweise im Erziehungsbereich, wo wir Mädchen und Knaben zusammen beschulen, was der Hamas nicht passt. UNRWA-Mitarbeitende wurden beschuldigt, politisch Position für Israel zu beziehen und zur Persona non grata erklärt, obwohl wir neutral sind. Wir stehen der Hamas in keiner Beziehung nahe.
Es gab diverse Fälle, wo sich UNRWA-Schulleiter und -Lehrer als Terroristen entpuppten. Nehmen Sie angesichts der von Ihnen beschriebenen komplexen Lage in Kauf, dass es weiterhin solche Fälle geben wird?
Nein, wir wollen die faulen Eier ausschliessen. Aber wir haben selber keine nachrichtendienstlichen Kapazitäten, daher sind wir auf die Kooperation mit den israelischen Behörden angewiesen. Wir stellen Israel die Listen mit den Namen unserer Mitarbeiter regelmässig zur Verfügung, wir taten dies auch bereits vor dem Krieg. Zurückgekommen ist nichts.
Israelische Beamte haben gegenüber der NZZ den Erhalt solcher Listen bestätigt – allerdings hätten sie nie den Eindruck gehabt, diese nachrichtendienstlich überprüfen zu müssen, zumal die UNRWA der Neutralität verpflichtet sei. Umso grösser der Schock der Israeli, als sich nach dem 7. Oktober herausstellte, dass einige Ihrer Mitarbeiter wohl am Terrorangriff beteiligt waren.
Wir sind uns natürlich völlig darüber im Klaren, welche traumatischen Effekte der 7. Oktober für die israelische Gesellschaft hatte. Wir haben diese Angriffe klar verurteilt. Doch es ist leider schwierig, Vorwürfe gegen unsere Mitarbeiter zu untersuchen, wenn wir keine Informationen von höheren Stellen Israels bekommen.
Geben Sie die Verantwortung für terroristische UNRWA-Mitarbeitende an Israel weiter?
Nein, es braucht gute Massnahmen in der UNRWA, und diese müssen verstärkt werden, wie es jetzt auch passiert. Aber genauso braucht es Dialog und Kooperation mit Israel. Da steht Israel als Mitgliedsstaat der Uno in der Pflicht.
Ein weiterer Vorwurf ist, dass Gebäude der UNRWA von der Hamas missbraucht würden.
Wir haben in Gaza derzeit keinen Zugang zu einem Grossteil unserer Liegenschaften, weil dort bis zuletzt Kampfhandlungen stattfanden. Von uns ist deshalb niemand dort. Wir können gar nicht überprüfen, wer sich in diesen Liegenschaften aufhält. Viele der Anschuldigungen gegen die UNRWA sind jedoch systematisch und politisch. Und sie gehen auf Kosten der über 2 Millionen Palästinenser in Gaza. Die stabilisierende Rolle der UNRWA und die Entwicklungsarbeit werden in der jetzigen Diskussion leider sehr oft ausgeblendet.
Die starke Rolle der UNRWA zementiert auch die Abhängigkeit der Palästinenser im Westjordanland, im Gazastreifen, in Libanon oder in Syrien und entbindet die jeweiligen Regierungen von ihrer Verantwortung, sich um diese Leute zu kümmern.
Punkt eins: Wir wollen nicht für immer hier sein. Wir geben unsere Aufgaben noch so gerne im Rahmen eines politischen Friedensprozesses an eine allfällige palästinensische Behörde ab. Wenn wir uns vorher zurückziehen, wird das sowohl in Gaza als auch im Westjordanland zum Kollaps führen. Punkt zwei: Die UNRWA ist keine politische, sondern eine humanitäre Entwicklungsorganisation. Wir üben das Mandat aus, das uns durch die Uno-Generalversammlung erteilt wurde. Es war auch die Generalversammlung, welche das Rückkehrrecht der Palästinenser per Resolution begründet hat.
Diese besagt, die Flüchtlinge von 1948 und 1967, aber auch ihre Nachkommen, hätten Anspruch auf eine Rückkehr in die alte Heimat. Würde man es in die Realität übersetzen, müsste Israel rund fünf Millionen sogenannte Palästinaflüchtlinge aufnehmen. Dann gäbe es Israel faktisch nicht mehr als jüdischen Staat.
Es handelt sich um das wohl schwierigste Thema der Konfliktparteien. Doch die UNRWA hat diese Rechtsgrundlage nicht geschaffen. Sie würde weiterhin gelten, auch wenn es die UNRWA nicht mehr gäbe. Um Lösungen zu finden, braucht es greifbare Fortschritte im Friedensprozess zwischen Israeli und Palästinensern.
Der Bundesrat will sich dafür einsetzen, dass die Palästinahilfe langfristig an andere Organisationen wie UNHCR oder Unicef übergeben wird. Wäre es nicht im Interesse der Bevölkerung, wenn sich eine Organisation ohne die Glaubwürdigkeitsprobleme der UNRWA um sie kümmern würde?
Die UNRWA hat als einzige Uno-Organisation das Mandat für direkte Dienstleistungen im Erziehungswesen, in der Gesundheitsversorgung und in der sozialen Hilfe. Keine Organisation wird es alleine schaffen, nach Ende der Kampfhandlungen in Gaza den Wiederaufbau zu bewältigen. Wir haben 5000 Mitarbeitende vor Ort, davon 1000 im Gesundheitswesen. Aufgrund unserer Grösse und Präsenz hängen alle anderen Organisationen von uns ab. Die Endverteilung der Lebensmittel läuft beispielsweise über unsere Strukturen. Das zu ersetzen, würde Monate, wenn nicht Jahre dauern.
Diese Koordinationsfunktion müssen Sie vielleicht ohnehin aufgeben. Das israelische Parlament hat die UNRWA im «Gebiet des Staates Israel» sowie den Kontakt zu israelischen Behörden verboten. Die Gesetze treten Ende Januar in Kraft.
Wir wissen bis anhin nicht, wie Israel die Gesetze umsetzen wird. Ohne Einverständnis der lokalen Behörden können wir nicht arbeiten, das ist klar. Die grösste Herausforderung ist das vorgesehene Verbot des Kontakts zwischen der UNRWA und Israel. Das ist präzedenzlos.
Wie würde sich das auf Ihre Arbeit auswirken?
Das bedeutet zum Beispiel, dass wir in Gaza keine Hilfskonvois mehr koordinieren können und uns im Westjordanland nicht mehr wie bis anhin mit den israelischen Streitkräften absprechen können.
Warum ist die Absprache mit dem israelischen Militär so wichtig?
Wir haben derzeit mehr als 47 000 Schüler und über eine halbe Million Patienten im Westjordanland. Die Koordination mit den israelischen Streitkräften ist im Krisenfall unabdingbar zum Schutz von Menschenleben. Wir koordinieren seit dem 7. Oktober 2023 regelmässig die Evakuierung unserer Schulen während Militäroperationen. Das wäre dann nicht mehr möglich. Diese Gesetze könnten bewirken, dass wir unsere 96 Schulen und 43 Gesundheitszentren im Westjordanland schliessen müssten.
Seit gestern schweigen im Gazastreifen die Waffen. Was bedeutet die Waffenruhe für die Lage der Bevölkerung?
Die UNRWA begrüsst den Waffenstillstand, auch wenn er viel zu spät kommt. Die israelischen Geiseln leiden, über 2 Millionen Palästinenser sind auf engstem Raum zusammengepfercht, Binnenvertriebene haben teilweise bis zu zehnmal ihren Aufenthaltsort gewechselt. Ausserdem brauchen sie dringend Nahrungsmittel. Israel und die Hamas haben vereinbart, rund 600 Lastwagen mit Hilfsgütern pro Tag durchzulassen.
Werden diese den Gazastreifen erreichen?
Die Erwartungen der Bevölkerung sind riesig, und wir werden alles tun, was in unserer Macht steht. Doch man muss realistisch sein. Es gibt keine Autorität, welche die öffentliche Ordnung aufrechterhält. Bewaffnete Gruppen fangen die Lastwagen häufig ab. Fraglich ist auch, ob vor Ort genug Fahrzeuge zur Verfügung stehen. Die Koordinierung der Hilfslieferungen mit israelischen Stellen ist oft bürokratisch, und es gibt nach wie vor erhebliche Restriktionen, beispielsweise für die Einfuhr durch den Privatsektor. Es braucht daher extreme Anstrengungen der internationalen Gemeinschaft und der Konfliktparteien.
Früher unterstützte die Schweiz die UNRWA mit 20 Millionen Franken pro Jahr, aufgrund der Vorwürfe waren es im Jahr 2024 noch 10 Millionen Franken. Der Nationalrat hat bereits entschieden, die Unterstützung der UNRWA komplett einzustellen. Nun versuchen Sie, Einfluss auf den Ständerat zu nehmen. Wie hoch schätzen Sie Ihre Chancen ein?
Das kann ich nicht beurteilen. Wir werden Fakten präsentieren und hoffen auf eine konstruktive Diskussion. Es geht letztlich um die humanitäre Verantwortung der Weltgemeinschaft.