Der Direktor des Schweizer Fussballnationalteams denkt trotz jüngster Resultatkrise, dass die Mannschaft deutlich weiter ist als vor einem Jahr. Tami nennt einen Grund, warum es an starken Aussenverteidigern mangelt. Und meint: «Vielleicht wäre es eine gute Idee, die Challenge League zu erweitern.»
Pierluigi Tami, wie fällt Ihre Bilanz zum Länderspiel-Jahr aus?
Es gab zwei Phasen. Das erste halbe Jahr mit der EM als Höhepunkt im Sommer war phänomenal. Im Herbst lief es in der Nations League weniger gut. Das Fazit ist sehr positiv. Wir hatten Anfang Jahr eine Menge Fragen, und wir erhielten Antworten: Das Schweizer Nationalteam ist auf höchstem Niveau kompetitiv.
Aber die Schweiz ist noch nicht bereit, konstant auf höchstem Niveau kompetitiv zu sein?
Bei uns muss alles stimmen, damit wir mit den besten Nationen mithalten können. Das war an der EM der Fall, als der Fokus der Spieler nur auf dem Nationalteam lag. Uns ist es lieber, wenn wir an der EM überzeugen und in der Nations League weniger, als umgekehrt. Man wird sich immer an diese EM erinnern, da entstanden magische Momente, die es in der Nations League gar nicht geben kann. Im Übrigen fand ich unsere Leistungen im Herbst nicht so schwach, wie sie teilweise in den Medien dargestellt wurden.
6 Spiele, 2 Punkte, 14 Gegentore, Abstieg – das lässt sich schlecht schönreden.
Wir wollen das auch nicht schönreden. Aber es gab viele Absenzen, wir waren im Abschluss nicht effizient genug, und wir hatten Pech mit falschen Schiedsrichterentscheiden. Wir haben nach den Rücktritten von Yann Sommer, Fabian Schär und Xherdan Shaqiri einen personellen Umbruch zu vollziehen, der nicht so einfach ist. Ich bin froh, dass wir in den letzten Wochen junge Fussballer gesehen haben, die in den nächsten Jahren eine Hilfe sein können. Ich denke an Fabian Rieder, Aurèle Amenda, Ardon Jashari oder Joël Monteiro. Und Zeki Amdouni hat bewiesen, dass er in der Lage ist, in der Offensive Akzente zu setzen. Zusammen mit den arrivierten EM-Stammspielern ist das ein starkes Gerüst für 2025.
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— UEFA EURO 2024 🇫🇷 (@EURO2024FRA) November 17, 2024
Wie schlimm ist der Abstieg für den Schweizerischen Fussballverband?
Es ist schade und ärgerlich. Aber der Abstieg ist auch schon anderen Nationen wie England passiert. Wir sind vielleicht ein wenig verwöhnt, weil wir an den Turnieren seit 2014 immer die Vorrunde überstanden haben. Wir waren 2024 in der Lage, Ländern wie Deutschland, England und Italien in wichtigen Partien auf Augenhöhe zu begegnen oder sie sogar zu dominieren. Dass unsere Leistungen gut waren, zeigt auch, dass wir in der WM-Auslosung im Dezember in Topf 1 sein werden.
Aus den letzten 15 Pflichtspielen resultierten lediglich 2 Siege. Diese Bilanz ist kläglich.
Wir hatten im Herbst 2023 tatsächlich eine schwierige Phase mit ungenügenden Leistungen. Da verloren wir die Stabilität und die Mentalität, die es benötigt, um Erfolg zu haben. Aber der Nationaltrainer Murat Yakin und sein Team haben die richtigen Schlüsse daraus gezogen. Schwach waren wir in diesem Jahr nur beim 0:2 in Serbien. Ich bin überzeugt, dass unsere Bilanz nächstes Jahr deutlich besser aussehen wird.
Vor genau einem Jahr wollten Sie nicht mit dem Nationaltrainer Yakin weitermachen. Heute ist er unumstritten.
Zuerst einmal: Das haben Sie komplett falsch mitbekommen vor einem Jahr. Es war eine komplizierte Phase, aber Murat Yakin hat uns mit seiner Analyse überzeugt. Er hat uns nicht nur aufgezeigt, welche Lösungen es braucht, um wieder besser zu sein. Er hat das mit dem Team an der EM auch umgesetzt. Wir sind heute deutlich weiter als vor einem Jahr.
Wir haben den Eindruck, dass Yakin ein exzellenter Turniertrainer sein kann, im Alltag aber nicht immer die gleiche Ernsthaftigkeit an den Tag legt. Teilen Sie diese Ansicht?
Überhaupt nicht. Er hat im Sommer 2021 nach der überzeugenden EM von Vladimir Petkovic übernommen und sofort die WM-Qualifikation geschafft. Nach einem derart überragenden Turnier wie im vergangenen Sommer müssen wir uns eingestehen, dass sich die Schweiz nicht konstant auf diesem hohen Niveau bewegen kann. Ich sprach kürzlich mit dem früheren Trainer Arsène Wenger, der heute für die Fifa arbeitet. Er sagte mir, dass die vielen Partien eine riesige Belastung für die Spieler seien, vor allem, wenn man nicht diese Kaderbreite habe wie die Topnationen. Wenn bei uns ein Leader wie Manuel Akanji fehlt, fällt das viel stärker ins Gewicht, als wenn bei Spanien zum Beispiel Rodri verletzt ist. Ich staune manchmal, warum die Trainer der Topklubs nicht mehr rotieren. Sie haben 25, 30 Fussballer im Kader, aber es spielen immer die gleichen 15, 16.
Entscheidend für die Steigerung unter Yakin war die Installierung von Giorgio Contini als Assistenten. Sind Sie besorgt, dass Contini wieder als Klubtrainer arbeiten möchte?
Giorgio Contini ist als kommunikativer und kompetenter Trainer tatsächlich ein enormer Gewinn für uns. Ich gehe davon aus, dass wir die WM-Kampagne 2026 mit ihm und Yakin in Angriff nehmen können, und freue mich darauf.
Jetzt steht Yakin vor einem herausfordernden Puzzle, wenn es um die Zusammenstellung der Mannschaft geht. Zum Beispiel gilt es, im Sturm und in der Verteidigung die richtige Besetzung zu finden. Wie sehen Sie die Situation?
Es wäre falsch, wenn ich Murat öffentlich Ratschläge gäbe. Er hat das Team weiterentwickelt, wir können heute mit einer Dreierkette und einer Viererkette in der Abwehr spielen. Es gibt Fussballer wie Dan Ndoye und Ruben Vargas, die mehr Verantwortung übernehmen. Ndoye erinnert mich ein wenig an Mohamed Salah. An Ndoye werden wir noch viel Freude haben. Andere wie die Stürmer Breel Embolo und Noah Okafor werden sich steigern. Die Rolle der Angreifer ist speziell, weil sie an Toren gemessen werden und schneller unter Druck geraten. Und gerade junge Stürmer erhalten leider oft wenig Einsatzzeit in ihren Klubs. Dabei ist klar: Bis zum Alter von 17 Jahren ist das Training entscheidend, danach die Spielpraxis.
Stimmt es, dass Sie nach der EM am Flughafen Zürich von der Familie Okafor bedrängt wurden, weil deren Sohn Noah an der EM nicht eingesetzt wurde?
Nein. Es war damals für mich nicht der geeignete Zeitpunkt für ein ausführliches Gespräch, wir waren alle noch voller Emotionen. Ich bin heute sehr glücklich, dass Noah wieder Teil des Nationalteams ist.
Und warum hat die Schweiz so grosse Schwierigkeiten, starke Aussenverteidiger auszubilden?
Das ist nicht nur ein schweizerisches Problem. Ich höre oft, dass überragende Spieler in der Jugend in ihren Klubs ins Mittelfeld gestellt werden, gerne ins Zentrum, weil sie dort mehr Einfluss nehmen können. So gehen gute Aussenverteidiger verloren. Das kann ein plausibler Grund sein, warum wir auf diesen Positionen nicht so eine Auswahl haben wie auf anderen.
Die U-19- und die U-21-Auswahl verpassten zuletzt die EM, junge Schweizer erhalten wenig Chancen in der Super League. Was läuft im Nachwuchsbereich schief oder schlechter als früher?
Es gibt keinen Grund, Alarm zu schlagen. Eine Qualifikation für eine EM ist im U-Bereich schwieriger, weil nur wenige Länder an einer solchen teilnehmen dürfen. Wir haben uns im Ranking der europäischen Teams im Nachwuchs innerhalb von fünf Jahren von Rang 27 auf Platz 8 verbessert. Und es stossen tolle Fussballer nach, denken Sie an Alvyn Sanches von Lausanne. Was stimmt: Junge Spieler haben es in der Schweiz schwer, regelmässig eingesetzt zu werden. Vielleicht wäre es eine gute Idee, die Challenge League zu erweitern. Und viele Talente wechseln zu früh ins Ausland. 95 Prozent aller Schweizer Nationalspieler in den letzten Jahren hatten sich zuvor in der Schweiz durchgesetzt. Manche wie Akanji, Freuler, Schär oder Sommer sogar zuerst via Challenge League.
🇨🇭Alvyn Sanches🇨🇭
20 years old, 1.80m tall, a central midfielder. Born in France but represents the Swiss national team. As a modern midfielder, he excels in both offensive and defensive roles. Sanches is highly skilled technically, with excellent ball control and short-passing… pic.twitter.com/ibA2OUvTwu
— Scout Europe (@scouteuropee) November 18, 2024
Sie kommunizierten kürzlich Ihren Rücktritt auf Ende 2026. Warum?
Weil ich dann das Pensionsalter erreichen werde. Und weil sich meine «Vision 2026», die wir 2019 entwickelten, bereits erfüllt hat. Wir haben starke Trainerteams auf allen Stufen, die unsere Philosophie umsetzen. Es geht um Flexibilität, um Tempo und Raumkontrolle, um eine aktive Spielweise mit und ohne Ball und darum, stets dominant aufzutreten. Wir haben das Scouting auf ein neues Level gehoben mit einer umfangreichen Datenbank und Digitalisierung. Alle Talente ab 14 Jahren werden regelmässig gefilmt und analysiert. Und schliesslich ist es uns gelungen, schon in der U 15 internationale Spiele zu bestreiten. Das fördert die Wettbewerbsfähigkeit.
Besteht die Gefahr, dass Sie die nächsten zwei Jahre ein Chef ohne viel Einfluss sein werden?
Überhaupt nicht. Ich habe den Zentralvorstand des Verbands schon vor längerem über meinen Abgang informiert, das Vorgehen ist abgestimmt. Nach der WM 2026 beginnt ein neuer Zyklus. Ich selbst werde ab 2027 weniger arbeiten, aber dem Fussball weiter verbunden sein. Ohne bereits zu wissen, was ich tun werde.
Wäre es nicht sinnvoller, Ihre Stelle aufzuteilen? Ein früherer Nationalspieler kümmert sich um die A-Auswahl, ein Techniker um die Nachwuchsteams.
Es hat sich bewährt, dass jemand alle Nationalteams unter sich hat und diese Bereiche koordiniert. Das ambitionierte Ziel auf allen Stufen ist es, dass die elf Spieler auf dem Platz in jeder Situation möglichst harmonisch auftreten. Unser Vorbild ist nicht Manchester City oder Real Madrid, sondern Atalanta Bergamo. Mit dem Trainer Gian Piero Gasperini tritt Bergamo den Möglichkeiten entsprechend nahezu perfekt auf. Wir möchten das Atalanta der Nationalteams sein.