Forscher wollen auf Island bis zu glutflüssigem Magma bohren. Es könnte eine Überraschung geben. Denn das seit Jahrzehnten gezeichnete Bild von der Magmakammer scheint falsch zu sein.
Man mag die Idee für verrückt halten oder für gefährlich oder für beides. Yan Lavallée findet sie «spektakulär» und eine grosse Chance für die Geoforschung. Er und weitere Kollegen wollen in einen Vulkan auf Island bohren, bis sie auf rund 900 Grad Celsius heisses Magma stossen. Was sie dabei messen und beobachten, soll vielen helfen: von Geologen, die Vulkanismus grundsätzlich verstehen wollen, bis zu Ingenieuren, die immer heissere Gesteine oder gar Magma für die geothermische Energiegewinnung nutzen möchten.
Forscher wollen also in eine Magmakammer bohren. Nur, wie kann man sich eine solche Kammer vorstellen? Ist es ein Hohlraum, in dem flüssiges Gestein wie in einem Suppentopf vor sich hin köchelt? Diesen Eindruck suggerieren die herkömmlichen Vulkangrafiken in Schul- und Lehrbüchern. Oben raucht’s, und wer dem Schlot nach unten folgt, sieht eine grosse rote Blase mit der Bezeichnung «Magmakammer».
Neuere Forschungsdaten wecken Zweifel am Konzept des Suppentopfs. Offenbar dominiert in der Tiefe bereits erstarrtes Material in Form von millimetergrossen Kristallen. Flüssige Schmelze ist in der Minderheit oder hat sich in Taschen gesammelt, die weitaus kleiner sind als die roten Blasen in den Grafiken. Vielleicht gibt es keine scharfe Grenze zwischen Magma und umgebendem Gestein, sondern eher einen fliessenden Übergang.
Mit alldem ist Lavallée, Professor für magmatische Petrologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Leiter des wissenschaftlichen Boards des Bohrprojekts namens Krafla Magma Testbed (KMT), natürlich vertraut. Er kennt die Debatten, auch die Unsicherheiten und sagt: «Wir wissen nicht, was uns erwartet.» Ein Grund mehr, es herauszufinden.
Aus der Tiefe muss regelmässig Magma nachströmen
Allen Glazner ist sich sehr sicher, dass es in der Zieltiefe des KMT, wenige Kilometer unter der Erdoberfläche, keine grosse Magmakammer voller Schmelze gibt. Zumindest nicht über geologisch längere Zeiten von Jahrtausenden bis Jahrmillionen. Um sie in der oberen Erdkruste, umgeben von relativ kühlem Fels, flüssig zu halten, müsse regelmässig viel Wärme nachgeliefert werden, erläutert der emeritierte Professor der University of North Carolina in Chapel Hill. «Das funktioniert nur, indem neues Magma aus grösserer Tiefe zuströmt.»
Was bedeutete: Die Erdkruste würde immer dicker, mehrere Zehnerkilometer pro Jahrmillion, zeigen Glazners Berechnungen. «Das sehen wir in der Natur aber nicht.» Und das spricht gegen die Existenz einer Magmakammer nach herkömmlicher Vorstellung.
Was man allenfalls in seismischen Untersuchungen sieht, sind Regionen im Untergrund, in denen sich die Erdbebenwellen langsamer ausbreiten. Ein Hinweis auf flüssiges Material. «Da schreiben die Geophysiker ‹Magmakammer› dran», sagt Glazner verärgert. Selbst wenn gemäss den Daten nur wenige Prozent Gesteinsschmelze zwischen festen Kristallen vorhanden seien. «Da kann nichts fliessen oder gar eruptieren, das ist festes Gestein.»
Fliessen – und damit aufsteigen und ausbrechen – kann Magma erst, wenn der Schmelzanteil 50 Prozent überschreitet. Das werde nur in kleinen Partien der vermeintlich grossen Magmakammer erreicht. Von dort steigt die Schmelze in schmalen Gängen nach oben, getrieben von Überdruck und Auftrieb. «Als 2009 auf Island ein Bohrer in zwei Kilometer Tiefe überraschend auf Magma stiess, könnte er statt einer Kammer auch bloss einen Gang erwischt haben», sagt der Vulkanologe.
Konventionell liegt die Magmakammer in fünf Kilometer Tiefe
«Vielen fällt es schwer, das einfache Bild der Kammer loszulassen», so Glazner. Es sei wie eingebrannt, ebenso ihre Lage in der Erdkruste. «Oft zeichnen die Leute die Oberkante der Magmakammer bei fünf Kilometer Tiefe ein», sagt er. «Ich könnte wahrscheinlich 50 Publikationen hervorholen, wo das so gemacht wurde, obwohl es keine Evidenz dafür gibt.» Wie eine Konvention, die ständig weitergegeben werde, meint er und gibt zu, ihr selbst über lange Zeit gefolgt zu sein.
«In der Fachgemeinschaft setzt gerade ein Umdenken ein», sagt Harri Geiger von der Universität Freiburg. Das Modell einer grossen Magmakammer komme an seine Grenzen, wie es einst den einfachen Atommodellen in der Chemie erging. Es setze sich zunehmend ein differenziertes Bild durch, für das die Forscher lieber den Begriff «Magmareservoir» verwenden. Er umfasst Schmelze, einen festen Brei von Kristallen (im Englischen «mush») sowie Fluide mit gelösten Gasen.
«Es gibt nicht die eine grosse Magmablase unter einem Vulkan», sagt der Wissenschafter. «Es ist eher ein Netzwerk aus mehreren Kammern, die miteinander verbunden sind.» Die fänden sich keineswegs nur in fünf Kilometer Tiefe, sondern auch weiter oben und unten. Das haben Geoforscher anhand von Mineralen rekonstruiert, die anzeigen, unter welchen Druck- und Temperaturbedingungen sie entstanden sind.
Reservoirs nahe der Oberfläche sind kurzlebig
Unter dem Mikroskop zeigen die Kristalle mitunter mehrere Säume. Wie Baumringe zeugen diese vom Wachstum, sie zeigen beispielsweise an, ob sich die chemische Zusammensetzung des Magmas geändert hat und wie schnell sie gewachsen sind. Aus solchen Analysen, so Geiger, wisse man, dass die Reservoirs nah an der Oberfläche meist geologisch kurzlebig seien. Das stützt Glazners Argumentation.
Doch es gibt Ausnahmen. «Wenn sich die obere Erdkruste durch langanhaltende magmatische Aktivität erwärmt, können sich dort grosse und langlebige Reservoirs bilden», sagt Olivier Bachmann, Professor für Vulkanologie und Magmatische Petrologie an der ETH Zürich. Diese fänden sich beispielsweise in Island, Japan, Neuseeland und Indonesien, wo sie leistungsstarke geothermische Systeme antreiben und als Wärmequelle nutzbar sind.
«Da wir Magmareservoirs nicht direkt sehen können, sind wir hinsichtlich ihrer Geometrie und Schmelzinhalte zu einem bestimmten Zeitpunkt sehr unsicher», sagt der Forscher. Er setzt auf verschiedene Methoden, um ihr Innenleben zu rekonstruieren. Dazu gehört klassische Geländearbeit, bei der «tote» Magmenkörper untersucht werden, sprich: längst erstarrte und von der Erosion freigelegte. Weiterhin die bereits genannten mikroskopischen Kristallanalysen, die durch bessere Technologien schneller und präziser werden – und so eine grosse Zahl an Datenpunkten liefern. Dazu kommen Messungen an der Oberfläche, etwa von ausgestossenen Gasen, und geophysikalische Verfahren, die auf der Ausbreitung seismischer Wellen basieren sowie auf der Leitfähigkeit der Geomaterialien im Untergrund.
Bachmann beschreibt ein gewöhnliches Magmareservoir folgendermassen: Einen grossen Teil nimmt der «Brei» ein. Die einzelnen Kristalle sind schwammartig wie in einem Netzwerk verbunden und trotz kleinen Schmelzanteilen dazwischen so zäh, dass sie nicht fliessen können. Dazu kommt kristallarme Schmelze, die sich in Taschen häuft. Mit geophysikalischen Verfahren lassen sich zumindest Taschen um die 100 Meter Grösse erkennen, sind sie kleiner, bleiben sie bis jetzt verborgen. Ausserdem finden sich im Reservoir noch Fluide und gelöste Gase.
In Island sollen Sonden im Magma herabsinken
Einen konkreten Einblick könnte das KMT-Vorhaben auf Island liefern. Yan Lavallée und Kollegen wollen mit etlichen Instrumenten an der Oberfläche sowie in den Bohrlöchern die Umgebung des Reservoirs genau erkunden. Sie entwickeln ausserdem Sonden, die im Magma herabsinken sollen und vor Ort unter anderem die Temperatur messen. Unter geradezu höllischen Bedingungen.
Lavallée ist zuversichtlich: «Es gibt viele Materialien, die das aushalten.» Details der Technologie will er nicht nennen, «solange sie nicht patentiert ist». Für schätzungsweise 250 Millionen Franken soll das erste Magma-Observatorium der Welt entstehen – für die Grundlagenforschung, die Energiebranche und um Verfahren zu entwickeln, mit denen die Gefahr von Vulkanen besser eingeschätzt und wenn möglich reduziert werden kann.
Der Versuch, in Magmakammern zu bohren – wie für das Magma-Observatorium KMT geplant –, könne viele neue wissenschaftliche Informationen bringen, sagt Bachmann. «Aber das Bohren ist relativ teuer und technologisch anspruchsvoll, insbesondere wenn die Bohrlöcher tiefer als drei bis vier Kilometer sein müssen.» Diese Tiefe wäre wichtig, um die langlebigen Magmaspeicherzonen zu erreichen. Daher sollten solche Bohrprojekte mit präzisen Gesteins- und Mineralanalysen im Labor verbunden werden sowie mit geophysikalischen Methoden, um ein möglichst vollständiges Bild vom Untergrund und von den Magmavorkommen zu erhalten.
Dennoch wird stets ein Rest an Unwissen bleiben. Ihn zu füllen, braucht es nach wie vor: Phantasie.
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